Aufbruch der Barbaren
lebt nicht!« rief er. »Er ist auch kein Dämon! Nur ein steinernes Abbild! Kommt!«
Zögernd kamen die anderen näher. Als sie den Riesenschädel fast erreicht hatten, veränderte sich Urgats Miene mit einemmal. Furcht war in seinen Augen. Er starrte Nottr grimmig an, als wollte er sagen, jetzt wird es Zeit für dein Versprechen. »Bruder!« entfuhr es Lella. Sie wollte nach seinem Arm greifen, aber er schüttelte sie ab. »Woher weißt du…«
»Er weiß es nicht«, erklärte Nottr ruhig. »Er ist besessen!«
Die Krieger wichen vor ihm zurück. Ihre Furcht galt nun mehr ihm als dem steinernen Dämon hinter ihm. Ein neuerliches Heulen und Pfeifen fuhr durch den Rachen und wehte eisig gegen ihre Gesichter, daß sie wie unter einem Peitschenhieb zusammenfuhren.
»Ja, es ist nur Stein«, sagte der Schamane. »Nur Stein… und das Heulen kommt vom Wind, der durch den Rachen fährt… Wer immer sie gehauen und bemalt hat, muß Dämonen mit eigenen Augen gesehen haben.«
Nottr nickte stumm. Er beobachtete Urgat mit zusammengekniffenen Augen und sagte zu Juccru: »Kannst du den anderen wecken, daß wir mit ihm sprechen können?«
»Ich kann es versuchen«, erwiderte der Schamane.
»Nein!« rief Urgat gequält. »Denk an dein Versprechen… dein Versprechen, Nottr…!«
Er wollte nach seinem Dolch greifen, doch Nottr war rascher und entwand ihm die Waffe.
»Was redet er da?« Lella wollte dazwischentreten, aber Nottr hielt sie zurück.
»Das Versprechen muß warten«, erklärte Nottr rauh.
»Welches Versprechen?« rief Lella wütend. »Will mir nicht einer sagen…?«
»Er will, daß Nottr ihn tötet, wenn dieser andere Geist wieder von ihm Besitz ergreift«, erklärte ihr der Schamane.
»Das hast du versprochen?« fragte sie heftig und mit bleichem Gesicht.
»Wir haben keine Zeit zu streiten«, lenkte der Schamane ein. »Hier lauern überall Gefahren.«
Nottr nickte. Er nahm Urgats Arm und sagte eindringlich: »Der andere scheint Bescheid über den Wald und die Riesen zu wissen. Gib uns eine Chance, mehr zu erfahren…«
»Nein«, stöhnte Urgat. »Ihr wißt nicht, wie es ist…«
»Gib uns eine Chance, ihn auszuquetschen. Wir werden alles tun, um ihn wieder…«
»Nein!« rief Urgat. »Ihr habt ebenso wenig Macht über ihn wie ich…!«
»Juccru wird es versuchen«, beschwor ihn Nottr.
Der Schamane nickte zustimmend, aber Urgat entging der Zweifel über den Erfolg in seiner Miene nicht.
»Ich habe dir mein Versprechen gegeben, aber ich werde es erst halten, wenn ich sicher bin, daß es keinen anderen Weg gibt.«
»Und nur, wenn ich es nicht verhindern kann«, wandte Lella grimmig ein. Sie funkelte die Männer an.
Die Krieger, die nach und nach die Furcht vor dem steinernen Schädel verloren hatten, folgten mit Verwunderung den Gesprächen ihrer Anführer. Zwei der Wagemutigeren gingen um den Schädel herum, fanden aber keine Öffnung ins Innere, außer dem Mund und den Augen. Man mußte sich ein wenig unter den messerscharfen steinernen Zähnen bücken, um hindurchzusteigen. Die zwei machten sich daran. Einer war bereits halb drinnen, als sich Urgats Miene erneut veränderte zu einer Maske des Erschreckens.
»Nein!« rief er mit veränderter Stimme. »Es ist eine Falle…!«
Einer der Krieger sprang erschrocken zurück. Der zweite brachte seinen Oberkörper nicht mehr aus dem Rachen, als die Zähne wie eine Henkersaxt nach unten fielen.
Die Lorvaner standen starr vor Grauen, nur Urgats veränderte Stimme sagte: »Ihr Barbaren seid wie Kinder, dumm, lästig, abergläubisch, neugierig und unbeirrbar, wenn ihr denkt, daß es etwas zu plündern oder zu zerstören gibt. Ihr seid über alles erträgliche Maß unzivilisiert. Wenn es nicht die Finsternis und die Dämonen gäbe, wärt ihr die einzige Plage der zivilisierten Welt!«
Es war so aus tiefster Seele anklagend, daß die Lorvaner selbst den eben geschehenen Tod vergaßen und den verwandelten Urgat wie einen Geist anstarrten. Selbst der Schamane stand mit offenem Mund.
Aber dann öffneten sich die Zähne des Riesen mit einem scharrenden Geräusch, das alle zusammenzucken ließ, und die untere Körperhälfte fiel in den Schnee. Gleichzeitig begann der Wind wieder durch den Rachen zu heulen. Es klang triumphierend.
»Diese Teufel«, sagte eine Kriegerin. »Der Wald ist eine Todesfalle! Laß uns umkehren, Lella!«
»Nein«, erwiderte sie entschieden. »Ciljo ist selbst schuld. Er war zu neugierig. Begrabt im Schnee, was von ihm übrig ist, und
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