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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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»Möwen« und »kreischen«, wenn der Wind die Erlen bewegte, denen wir nun immer näher kamen, sagte ich mir: »Der Wind bewegt die Erlen.« Keine Vergleiche, keine Metaphern. Keine Bilder. Nichts, was Gefühle heraufbeschwören könnte. Ich hielt mich an die Fakten. Die Wörter für die Fakten. Die hielten mich hinter dem Rücken des Vaters, Wörter und Fakten vereint gegen Einfälle, Gedanken, Gefühle.
    Der Vater hatte das Stöckchen in die linke Hand genommen und schlug damit bei jedem Schritt gegen das kurze Bein, als wolle er es zur Eile treiben. Etwas blitzte auf an seiner Hand, von der alles Schrubben die schwarzen Spuren der Maschinenschmiere nicht hatte entfernen können. Es war der Siegelring, den er sonst nur trug, wenn die Mutter ihr Hütchen mit Schleier aufsetzte. Seinen Siegelring und seinen Schirm, einen schwarzen Stockschirm im Seidenfutteral, pflegte er zu Festlichkeiten mitzunehmen. Er schwang ihn dann, wie er es wohl beim Prinzipal, der ihm den Schirm vermacht hatte, gesehen hatte. Aufgespannt wurde der Schirm nie. Den Ring hatte ich zuletzt bei Hannis Hochzeit an seinem Finger gesehen. Ein Silberring mit den Initialen seines Namens.

    Vom Pfad, der ans Rheinufer führte, bog der Vater ab und marschierte geradewegs übers Gras dem Erlenwäldchen entgegen. Ein paar Krähen flogen auf; der Vater sah hoch, blieb mit dem schweren Schuh in einem Maulwurfshügel hängen, stolperte. Ich tat, als hätte ich sein Schwanken nicht bemerkt. Der Wind bauschte seinen Mantel, den er aufgeknöpft hatte; ich wich den flatternden Stoffbahnen aus.
    Zielstrebig ging der Vater ein paar Meter am Rand des Erlenwäldchens entlang, schlug sich dann mit einer raschen Bewegung seitwärts in den Sand, ins Gebüsch und steuerte auf einen Baumstamm zu, den Wind und Alter gebrochen hatten. Umständlich kramte er ein Taschentuch heraus, sein weißes Sonntagstaschentuch, knallte es auseinander, wie vor Jahren der Großvater seine blau- oder rotkarierten, breitete es über das dickste Stück des Stammes, streifte mich mit einem kurzen Blick und setzte sich neben das Tuch. Seine beringte Hand klopfte einladend neben sich, ein feines hartes Geräusch, als dringe ein Specht ins Holz. Klopfte noch einmal, diesmal mit der Faust, ehe ich mich am anderen Ende des Stammes zu ihm setzte, das weiße Taschentuch zwischen uns.
    Der Vater sah geradeaus. Ich sah geradeaus. Vielleicht trafen sich unsere Blicke weit draußen auf dem Rhein in den schwarzrot-goldenen Streifen der Flagge eines Schleppkahns, fuhren wir mit den Augen an Deck gemeinsam nach Duisburg oder nach Rotterdam ans Meer. Vielleicht aber kamen sie auch erst hoch oben in der Wolke zusammen, die über den Pappeln am anderen Ufer hing. Der Vater kratzte sich im Nacken, dann am Hals. Er nahm den Hut ab.
    In der kühlen Abgeschiedenheit des Erlenwäldchens saßen wir und schwiegen, hörten nichts als das Rascheln der Blätter in den Wipfeln, ein fernes nervöses Säuseln, und die sirrende Stille der Grillen, der Mücken, Musik eines heißen Sommertages.
    »Waröm«, ließ er sich schließlich vernehmen, als habe er endlich genug Wörter für einen Satz in der Kehle zusammengebracht: »Waröm ziehs de dir denn nit mal wat Nettes an?«
    Verdattert schaute ich an mir herunter.
    »Mir haben doch so schöne Sache in Köln jekauft.«
    »Die sind mir doch längs ze klein.«
    Ich löste den Blick von dem Schleppkahn und heftete ihn auf das Taschentuch. Daneben die Hand des Vaters. Der Ring. Meine Augen machten an der Grenze des Tuches Halt.
    »Has de denn nix Besseres?«
    Ich schwieg.
    »Aber wenn de jetzt nach Köln jehst. So kanns de doch do nit rumlaufe.«
    »Ich denk, da wird nix draus. Ihr seid doch all dagegen.«
    »Wer sacht dat?« Die Hand des Vaters neben dem weißen Tuch ballte sich zur Faust.
    »Ja, ihr! Du, die Mama, die Oma. Sicher auch die Tante.«
    »Die Mama, die Oma, die Tante«, äffte der Vater. »Un isch? Isch han nit Nä jesäät, vorhin am Desch! Loss die doch kalle.«
    Unversehens war der Vater wieder ins Platt gefallen. Die Narbe zuckte.
    »Du tricks 59 noh Kölle!« Der Vater bellte den Satz wie einen Befehl.
    Ich schrak zusammen, nur der Klang seiner Stimme, der gewohnte schroffe Ton erreichte mich, nicht der Inhalt.
    »Hörs de nit? Du ziehst nach Kölle«, wiederholte der Vater gelassen und straffte sich, richtete sich auf, dass der Stamm ins Schwanken geriet.
    Ich klammerte mich mit beiden Händen fest.
    »Waröm sachs de denn nix?« Der Vater drehte mir

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