Aufbruch - Roman
und fuchtelte mit den Armen. Die Tür stand offen; »Wenn die Cowboys träumen«, plärrte Radio Luxemburg aus dem Hausflur.
»Jitz kütt ihr sofort erin! Wat solle de Lück sagen. Aleen am Sonndach dursch et Dörp!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte die Mutter uns den Rücken zu, warf das Gartentor vor uns ins Schloss und verschwand im Haus. Der Vater legte die Hand auf die Klinke. Der Siegelring war verschwunden. Der Vater blieb stehen.
»Kuck mal«, der Vater streifte die lila Klematis neben der Haustür wie mit einer flüchtigen Liebkosung. Dicht beim Wurzelstock trieb aus den Ranken eine schneeweiße Blüte. Alle anderen lila, bis auf die eine weiße. Aber aus einem Strauch.
»Josäff! Hilla!« Die Mutter stand wieder in der Haustür.
»Isch treck misch jitz öm«, sagte der Vater. Kurz darauf ging er in Arbeitskleidern in seinen Schuppen zu seinen Werkzeugen. Ich saß schon in meinem Stall. Bei den Büchern.
Im Lexikon fand ich: »Ochsenziemer. Substantiv, männlich, ›Klopfpeitsche‹. 17. Jahrhundert. Der Ochsenziemer besteht aus der getrockneten Rute des Stiers. Der zweite Bestandteil ist mittelhochdeutsch zem, zim, zemmel, zimer und zahlreiche andere. Der Zusammenhang des Wortes mit Ziemer erklärt sich durch die Entlehnung aus französisch cimier, das 1. ›Schwanz‹ bedeutet, dann 2. durch Übertragung ›männliches Glied‹.«
Schluckaufgeschüttelt vergrub ich mein Gesicht in den Händen.
Während das unregelmäßige Hämmern im Stall nebenan zunahm, suchte ich Trost bei den Sommerblumen , schlug das Buch auf, zufällig, irgendwo. Es fiel beim Odermennig auseinander. Wie lange war das her, dass mir Peter von dieser Pflanze erzählt hatte. Agrimonia eupatoria, hilfreich gegen Leberkrankheiten, Krebs und giftigen Tierbiss. Wo war die Pflanze gegen die Kapsel in mir, gegen die Wand, die mich von den Menschen, der Wirklichkeit trennte? Gegen die Faust, die mir das Wort in der Kehle zurückschlug, wenn ich sie schon in der Mundhöhle spürte, diese zwei Silben: Dan-ke! Wo wuchs das Kräutlein, Galium verum, das mir zum Gesunden helfen würde, wie es das Großvaterbuch versprach? Wenn ich es unter mein Kopfkissen legen würde, wie schon zu Zeiten des heiligen Bonifatius, und dazu beten: »Heil sei dir, du heilig Kraut! / Hilf uns zum Gesunden, / Auf dem Ölberg wurdest du / Allererst gefunden. / Du bist gut für manches Weh, / Heilest manche Wunden, / Bei der Jungfrau heil’gem Strauß / Lasse uns gesunden.«
Gesunden, dass ich den Vater würde an der Schulter fassen können und Danke sagen, ihm in die Augen sehen können und ihm meine öffnen. In die Augen sehen, ohne die meinen so zu verhärten, dass er in meinen Augen mehr finden könnte als sein Spiegelbild.
Tags darauf hängte ich hinterm Haus mit der Mutter Wäsche auf. Genüsslich sog ich den Grasgeruch und den Duft frischgewaschener Baumwolle ein.
Ächzend bückte sich die Mutter über den Korb, angelte nach einem Handtuch und stemmte sich die Faust ins Kreuz.
»Lass dat doch. Du musst dich doch nit bücken. Ich geb dir die doch hoch.«
Ich spießte die Wäscheklammer auf das Betttuch an der Leine und sprang hinzu.
»Hier has de et doch jut«, zischelte die Mutter, zwischen den Zähnen zwei Wäscheklammern, die sie sich eine nach der anderen in die Hand spuckte und alsdann flink und präzise auf Laken und Leine steckte.
»Hier brauchs de doch für nix ne Finger krumm zu mache«, fuhr sie deutlicher, aber immer noch mit gedämpfter Stimme fort. »Wo bis de denn widder mit deinen Jedanken?« Der Ellenbogen der Mutter in meinen Rippen, ich fuhr zusammen. »Wie lang brauchs de denn noch für dat Tischtuch?« Die Mutter ruckte mir das Wäschestück aus den Händen. »Nun jeh schon widder in deine Stall. Du häs ja doch nix em Kopp wie de Bööscher.«
Seit mich der Vater so unverhofft zur Mitwisserin seines Geheimnisses gemacht hatte, fühlte ich der Mutter gegenüber ein merkwürdiges Unbehagen, als hätte ich ihr ein Unrecht getan; ein Gefühl, das mich weich und bereitwillig machte.
Schweigend bückte ich mich nach dem nächsten Laken, reichte es der Mutter, die es mit der Rechten über die Leine schwang, während sie die Linke aufhielt für die Klammer, raus aus den Zähnen und drauf auf die Leine, und wieder spucken und Klammer und Leine, ein Griff in den Klammerbeutel, der der Mutter vorm Bauch hing, drei Klammern zwischen die Zähne, ich reichte das nächste Stück, einen Bettbezug; wir packten ihn an den Enden, streckten
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