Aufbruch - Roman
Verwahrlosung. Aber dieses Gehaltensein spornte nicht an. Es machte demütig, bescheiden. Ermutigte nicht, diesen von Gott in seiner Allmacht zugewiesenen Platz zu verlassen.
Wenn vor Gott alle Menschen gleich waren, was spielte es da für eine Rolle, ob man als Hilfsarbeiter oder Brauereibesitzer, als Oberstudienrat oder Hausmeister, Arbeitnehmer oder Arbeitgeber in den Himmel kam? Und wer noch immer nicht dran glauben wollte, für den gab es die Geschichte vom Reichen, samt Kamel und Nadelöhr.
Kowalskis lebten ihre Armut ohne den barmherzigen Schleier der Religion. Ohne die Beschwichtigung, alle Menschen seien gleich - vor Gott. Ohne Erbauung, ohne den Trost der Schönheit der biblischen Sprache, der Liturgie, der Gesänge, Bilder und Blumen, des Duftes von Weihrauch und Kerzen. Dafür aber mit Bebel und Zetkin, Heine und Heinrich Mann. Die Armut der Kowalskis war eine strenge, aufrechte, fast aufsässige Armut. Oja, alle Menschen waren gleich - und zwar jetzt und hier. In der Demokratie. Vor dem Gesetz. Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, was fleißige Hände erwarben. Nie hätte Kowalski zu seiner Tochter gesagt: Jlöv jo nit, dat de jet Besseres bes. Sie waren nix Besseres und wollten das auch nicht werden. Sie wollten bleiben, was sie waren, nur bessergehen sollte es ihnen. Und dazu warteten sie weder auf irdische Almosen noch auf himmlische Fügung. Sie kämpften. Für Zuckererbsen hier und jetzt. Und nicht für alle, sondern für die Zukurzgekommenen, für die da unten. Für die, denen der liebe Gott die Plätze als Arbeitnehmer reserviert hatte. Es gab eine Armut mit Häuschen und Garten und Kirche, und es gab die andere mit Büchergilde, Genossenschaftswohnung, Flugblattverteilen und acht Prozent mehr Lohn.
Das alles hätte mir gefallen müssen. Es gefiel mir nicht. Es war mir zu wirklich. Zu dicht am Möglichen, am Machbaren. Dieser Weg aus der Armut war ein Weg der kleinen Schritte. Er ließ keinen Platz für Träume. Keinen Platz fürs Fliegen. Lieber fliegen in Träumen als vorwärtskommen Schritt für Schritt im wirklichen Leben. Ich hielt es weiterhin mit Schiller: Freiheit ist nur in dem Reich der Träume.
Im Holzstall ersuchte ich mein Lexikon um Aufklärung. Ob es im 19. Jahrhundert schon Arbeitnehmer und Arbeitgeber gab?
Über sechzehn Seiten, ganze zweiunddreißig Spalten, erstreckte sich das gesammelte Wissen zum Thema Arbeit. »Arbeitgeber«, las ich, »ist derjenige, welcher einen oder mehrere Arbeiter gegen Lohn beschäftigt … Die Arbeitgeber haben aus ethischen und rechtlichen Gründen für das Wohl ihrer Arbeiter, deren Arbeitskraft sie benutzen, zu sorgen … Neuerdings sind sie durch die socialpolitischen Gesetze verpflichtet worden, die Versicherung der von ihnen beschäftigten, versicherungspflichtigen Personen gegen die wirtschaftlichen Folgen von Krankheit, der Betriebsunfälle und der Invalidität oder des Alters zu vermitteln und zum Teil auf eigene Kosten durchzuführen … Abgesehen von diesen Geldaufwendungen« - die Aufzählung ging über zwei Spalten - »sind die Arbeitgeber der Gesamtheit gegenüber dafür verantwortlich, dass ihre Arbeiter thunlichst moralisch gehoben werden. Dies geschieht am besten durch Herstellung und Erhaltung persönlicher Beziehungen zu den Arbeitern, durch Eingehen auf ihre besonderen Interessen, namentlich in Fällen der Not und der Krankheit, durch Belebung und gutes Beispiel, hierzu können auch die Ehefrauen der Arbeitgeber wesentlich beitragen. Die thunlichste Ausgleichung wirtschaftlicher und socialer Gegensätze ist die Hauptaufgabe der Gegenwart, und bei ihrer Lösung fällt dem Arbeitgeber der Hauptanteil zu, weil er durch seine Stellung auf ein stetes Zusammenwirken mit den Arbeitern angewiesen ist.«
Arbeitnehmer, immerhin gab es auch dieses Wort schon vor hundert Jahren, verwies auf: Arbeiter.
»Arbeiter ist ein jeder, welcher an der wirtschaftlichen Produktion, an der Wertschaffung thätig teilnimmt. Allein in einem engeren, wenngleich gebräuchlicheren Sinne bezeichnet man als Arbeiter oder Arbeitnehmer diejenigen, welche von Arbeitgebern (Unternehmer, Fabrikanten) gegen Lohn mit einer Arbeit beschäftigt werden, bei der die körperliche Thätigkeit stark überwiegt … Die Gesamtheit dieser Arbeiter bildet den Arbeiterstand, die arbeitende Klasse …«
Astrids Familie kämpfte für den Arbeiterstand. Ich kämpfte für mich. Zuckererbsen für jedermann? Das klang nach »Samstags gehört Vati mir« und »Wohlstand für
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