Auferstehung
dachte an seinen Schmerz und seine kopflose Flucht, bevor ein gnädiges Dunkel sich seiner bemächtigt hatte, irgendwo auf dem bewaldeten Abhang. Dort hatte er sich wiedergefunden, nachdem er bei Tagesanbruch das Bewusstsein wiedererlangt hatte: ausgestreckt unter Bäumen am Rand der überwucherten Feuerschneise. Und wieder hatte er einen Besuch in seiner Heimat abgebrochen, war sofort nach Moskau zurückgekehrt und hatte sich dort in die Hände des besten Arztes begeben, den er auftreiben konnte. Es war komplette Zeitverschwendung gewesen. Er schien vollkommen gesund zu sein. Röntgenaufnahmen ergaben nichts; Blut- und Urinproben waren hundertprozentig normal; Blutdruck, Puls und Atmung waren genau so, wie sie sein sollten. War sich Dragosani irgendwelcher Krankheitssymptome bewusst? Nein. Hatte er je an Migräne oder Asthma gelitten? Nein. Vielleicht war es die Höhe gewesen. Hatten die Nebenhöhlen je Schwierigkeiten gemacht? Nein. War er vielleicht überarbeitet? Wohl kaum! Konnte er sich vorstellen, was seine Beschwerden verursacht haben könnte? Nein.
Ja, aber es war unerträglich, daran zu denken und durfte unter keinen Umständen ausgesprochen werden.
Der Arzt hatte ihm Schmerzmittel verschrieben, falls die Symptome erneut auftraten, und dabei war es geblieben. Dragosani hätte zufrieden sein sollen, war es aber nicht. Absolut nicht ... Er hatte versucht, Thibor auf große Entfernung zu kontaktieren. Vielleicht wusste der alte Teufel die Antwort; selbst eine Lüge mochte eine Art Lösung enthalten; aber ... nichts. Falls Thibor ihn hören konnte, schwieg er.
Dragosani war hundertmal die Ereignisse durchgegangen, die zu dem schrecklichen Schmerz geführt hatten, zu seiner Flucht und dem Zusammenbruch. Etwas war von oben auf seinen Nacken gespritzt. Regen? Nein, es war ein klarer Abend gewesen, knochentrocken. Ein Blatt, ein Stück Rinde? Nein, denn es hatte sich nass angefühlt. Kot von einem Vogel vielleicht? Nein, denn er hatte danach getastet, und seine Hand war sauber gewesen.
Etwas war am Ende seines Rückgrats gelandet, und nur Augenblicke später waren seine Wirbelsäule und sein Hirn gepackt und gequetscht worden!
Von etwas Unbekanntem. Aber wovon?
Dragosani glaubte, die Antwort zu kennen, aber er wagte es kaum, darüber nachzudenken. Es war bereits in seinen Schlaf eingedrungen und hatte ihm endlose Nächte voller Albträume beschert – entsetzliche, wiederkehrende Albträume, an die er sich nach dem Aufwachen nie erinnern konnte.
Die ganze Sache hatte vollkommen von ihm Besitz ergriffen, und es gab Zeiten, da er an fast nichts anderes mehr dachte. Es hatte nicht nur damit zu tun, was geschehen war, sondern auch mit dem, was ihm der Vampir erzählt hatte, während es geschah. Und es hatte auch mit gewissen Veränderungen zu tun, die er an sich wahrgenommen hatte, seitdem es geschehen war ... Physiologische Veränderungen, unerklärliche Veränderungen. Oder falls es eine Erklärung gab, war Dragosani vielleicht noch nicht bereit für sie.
»Dragosani, mein Junge«, hatte Borowitz ihn vor kaum einer Woche gerufen, »Sie altern ja vorzeitig! Nehme ich Sie zu sehr ran, oder was? Vielleicht nicht hart genug! Ja, vielleicht ist es das: Sie sind nicht beschäftigt genug. Wann haben Sie zuletzt ihre edlen Fingerchen mit Blut beschmutzt, hm? Vor einem Monat, oder? Der französische Doppelagent? Schauen Sie sich doch bloß an, Mann! Ihnen geht das Haar aus – und Ihr Zahnfleisch geht auch zurück! Und mit Ihrem bleichen Gesicht und den eingefallenen Wangen könnten Sie fast, na, bleichsüchtig sein! Vielleicht tut Ihnen die Spritztour nach England gut ...«
Tatsächlich wichen Dragosanis Haare nur scheinbar zurück. Ein kleines Muttermal auf Dragosanis Kopfhaut, das nahe am Haaransatz lag, bewies das. Seine Position im Verhältnis zum Haar hatte sich seit wenigstens zehn Jahren nicht verändert; also ging sein Haaransatz nicht zurück. Der Schädel selbst schien sich verändert zu haben, er hatte sich nach hinten verlängert. Dasselbe traf auf sein Zahnfleisch zu. Auch dies zog sich nicht zurück, wie Borowitz behauptet hatte, sondern es waren seine Zähne, die länger geworden waren! Besonders die Schneidezähne, die oberen und die unteren.
Das Gerede von der Bleichsucht war reiner Schwachsinn. Bleich war er vielleicht, aber keineswegs schwach; in Wirklichkeit fühlte er sich stärker, vitaler als je zuvor in seinem Leben. Körperlich jedenfalls. Seine Blässe rührte möglicherweise von einer
Weitere Kostenlose Bücher