Auferstehung
Dragosani. »Das britische Gegenstück zu unserem Dezernat ist jetzt eine schlagkräftige Truppe. Wie schlagkräftig, wissen wir nicht genau, aber vielleicht sind die sogar besser als wir. Wir wissen sehr wenig über sie, und das ist schon ein schlechtes Zeichen.«
»Wie viel wissen die denn über uns?«
»Guter Gedanke.« Dragosani musterte seinen Gefährten etwas respektvoller. »Vielleicht, dass wir beide jetzt in diesem Flugzeug sitzen und eine Mission haben! Gott bewahre!«
Batu lächelte sein breites, elfenbeinernes Lächeln. »Ich glaube an keinen Gott. Nur an den Teufel. Der Genosse General fürchtet also, dass Shukshin doch noch mit den Briten reden könnte, wenn man ihn nicht zum Schweigen bringt?«
»Damit hat Shukshin gedroht, ja. Er will Geld, oder er erzählt dem britischen Dezernat alles, was er weiß. Das kann nach all der Zeit nicht mehr viel sein, aber selbst geringes Wissen über uns ist für Gregor Borowitz zu viel!«
Max Batu war einen Augenblick lang nachdenklich. »Aber wenn Shukshin nun auspackt, würde er sich da nicht selber auch ausliefern? Würde er nicht zugeben, dass er eigentlich als ESP-Agent der UdSSR nach England kam?«
Dragosani schüttelte den Kopf. »Das muss er gar nicht. Ein Brief ist absolut anonym, Max. Sogar ein Telefonanruf. Auch wenn zwanzig Jahre vergangen sind, weiß er noch immer Dinge, die Borowitz geheim halten möchte. Ganz besonders zwei Dinge könnten sich für die britischen ESPer als wertvoll erweisen. Erstens: der Standort von Schloss Bronnitsy. Zweitens: die Tatsache, dass Genosse General Gregor Borowitz selbst Chef der russischen ESP-Spionage ist. Diese Gefahr stellt Shukshin dar, und deswegen wird er sterben.«
»Und trotzdem ist sein Tod nicht unser eigentliches Ziel.«
»Nein, unser vordringlicher Auftrag ist der Tod eines anderen, der weit wichtiger ist. Es ist Sir Keenan Gormley, Chef ihrer ESP-Abteilung. Sein Tod ... und sein Wissen – alles – ist unser oberster Auftrag. Borowitz will beide tot sehen, und er will ihre Geheimnisse. Sie werden Gormley erledigen – auf Ihre besondere Art –, und ich werde ihn dann auf meine Art untersuchen. Zuvor töten wir Viktor Shukshin und untersuchen ihn. Das sollte wirklich keine Schwierigkeiten machen: Er wohnt einsam und abgelegen.«
»Und Sie können ihnen wirklich alle Geheimnisse abnehmen? Nachdem sie tot sind, meine ich?« Batu schien starke Zweifel zu hegen.
»Ja, wirklich. Sicherer, als es ein Folterknecht zu ihren Lebzeiten könnte. Ich werde ihnen ihre innersten Gedanken direkt aus ihrem Blut, ihrem Knochenmark und ihren kalten und einsamen Knochen stehlen.«
Eine pummelige Stewardess erschien am Ende des Mittelgangs. »Bitte Sicherheitsgurte anlegen«, tönte sie wie ein Roboter, und die Passagiere gehorchten ebenso roboterhaft.
»Gibt es irgendwelche Grenzen für Sie?«, fragte Batu. »Nur meine morbide Neugierde, natürlich.«
»Grenzen? Was meinen Sie?«
»Wenn ein Mensch schon eine Woche tot ist, zum Beispiel?«
Dragosani winkte ab. »Das ist kein Problem.«
»Und wenn er schon seit hundert Jahren tot ist?«
»Sie meinen eine ausgetrocknete Mumie? Borowitz fragte sich das auch. Wir haben experimentiert. Es war für mich immer gleich. Die Toten können ihre Geheimnisse nicht vor einem Nekromanten verbergen.«
»Was wäre mit einer verrottenden Leiche«, drängte Batu. »Sagen wir, jemand ist schon seit einem oder zwei Monaten tot. Das muss doch ziemlich furchtbar sein ...«
»Sicher. Aber ich bin dran gewöhnt. Die Schweinerei kümmert mich weniger als das Risiko. Leichen wimmeln vor Krankheitserregern. Ich muss sehr vorsichtig sein. Es ist kein besonders gesundheitsförderndes Geschäft.«
»Brrr!«, entfuhr es Batu. Dragosani bemerkte, wie es ihn ein wenig schüttelte.
Die Lichter von London glitzerten in der Entfernung am nächtlichen Horizont. Die Stadt war ein diffuses Glühen hinter den kleinen runden Fenstern.
»Und Sie?«, fragte Dragosani. »Hat Ihr Talent irgendwelche Grenzen, Max?«
Der Mongole zuckte mit den Achseln. »Es hat auch seine Gefahren. Es benötigt viel Energie; es raubt mir Kraft; es schwächt. Und wie Sie wissen, wirkt es nur gegen die Schwachen und Gebrechlichen. Angeblich gibt es noch einen weiteren kleinen Haken, aber das liegt im Reich der Legende, und ich will es nicht ausprobieren.«
»Ach?«
»Ja. In meinem Land wird eine Geschichte von einem Mann mit dem bösen Blick erzählt. Eine alte Geschichte, sie reicht 1000 Jahre zurück. Dieser Mann
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