Auferstehung
Gesetze, die es einst isolieren sollten, beschützten und bewahrten es nun.
Das Ding in der Erde. So dachte er immer – nicht ›er‹, sondern ›es‹. Der alte Teufel, der Drache, der vampyr. Der echte Vampir, nicht nur ein Geschöpf aus reißerischen Romanen und Filmen. Dort lag es unter der Erde und wartete.
Wieder ließ Dragosani seinen Geist zurückschweifen ...
Als er neun war, hatte die örtliche Schule in Ionesti geschlossen, und sein Vater hatte ihn auf einer Schule in Ploiesti angemeldet. Dort hatte man binnen Kurzem bemerkt, dass er sehr intelligent war, und ihn auf eine Hochschule in Bukarest geschickt. Sowjetische Beamte des Erziehungsministeriums, ständig auf der Suche nach jugendlichen Talenten in ihren Satellitenstaaten, wurden bald auf ihn aufmerksam und ›empfahlen‹ ihm eine bessere Ausbildung in Moskau. Mit ›besserer Ausbildung‹ meinten sie in Wirklichkeit eine intensive Beeinflussung, nach der man ihn eines Tages zurück nach Rumänien schicken würde, als Beamter der Marionettenregierung.
Doch vor all dem – als er gerade erfahren hatte, dass man ihn in Ploiesti angemeldet hatte und er nur ein- oder zweimal im Jahr nach Hause dürfe –, war er zu der dunklen Lichtung unter den Bäumen zurückgekehrt, um jenes Ding in der Erde um Rat zu fragen. Nun ging er wieder dorthin, auf den Schwingen der Erinnerung, und er sah, was er damals gewesen war: ein Junge, der mit den Händen vorm Gesicht schluchzend und kniend seine Tränen über das Basrelief mit Fledermaus, Drache und Teufel verströmte.
Was? Obwohl du weißt, dass ich nach Eisen und starkem Fleisch suche, bietest du mir Salz und Schleim? Bist das wirklich du, Dragosani, der du die Saat der Größe in dir trägst? Habe ich mich also getäuscht? Bin ich dazu verdammt, auf ewig hier zu liegen?
»Ich soll in Ploiesti zur Schule gehen. Ich soll dort wohnen und darf nur ab und an zurückkehren.«
Und das ist der Grund deiner Trauer?
»Ja.«
Dann bist du ein Mädchen! Wie willst du das Wesen der Welt hier im Schatten der Berge kennenlernen? Selbst die Vögel haben mehr gesehen als du! Die Welt ist groß, Dragosani, und um ihre Wege zu kennen, musst du sie beschreiten. Und Ploiesti? Ich kenne diese Stadt: Sie ist nur einen strammen Tagesritt entfernt – zwei allerhöchstens! Und das ist ein Grund zum Weinen?
»Aber ich will nicht gehen ...«
Ich wollte auch nicht hier begraben werden, trotzdem haben sie es getan. Dragosani, ich sah eine meiner Schwestern mit abgeschlagenem Haupt, mit einem Pfahl im Herzen und Augen, die auf den Wangen hingen, und ich habe nicht geweint. Nein, aber ich verfolgte ihre Mörder, häutete sie und zwang sie dazu, ihre eigene Haut zu essen. Und dann habe ich sie mit glühenden Eisenstäben vergewaltigt und in Öl getaucht, um die Fackel an sie zu legen und sie brennend die Felsen von Brasov hinabzustoßen. Erst da weinte ich – Tränen der reinsten Freude! Was? Und dich habe ich meinen Sohn genannt, Dragosani?
»Ich bin nicht dein Sohn!«, fauchte Boris und vergoss Tränen der Wut. »Ich bin niemandes Sohn. Und ich muss nach Ploiesti gehen. Und es ist keine zwei Tage von hier entfernt, sondern nur drei oder vier Stunden mit dem Auto! Du gibst vor, so viel zu wissen, aber du hast noch nie ein Auto gesehen, oder?«
Nein, das habe ich nicht – bis jetzt. Jetzt kann ich eines sehen, in deinem Geist, Dragosani! Ich habe schon viele Dinge in deinem Geist gesehen. Manche haben mich überrascht, aber nichts hat mich erstaunt. Also macht es das ›Auto‹ deines Stiefvaters leichter für dich, nach Ploiesti zu kommen? Gut! Dann kannst du auch leichter wieder zurückkehren, wenn es an der Zeit ist ...
»Aber ...«
Hör mir zu: Geh auf diese Schule in Ploiesti – werde so klug wie deine Lehrer, und klüger noch. Kehre zurück als Gelehrter. Und als Mann. Ich habe fünfhundert Jahre gelebt und war ein großer Gelehrter. Das war nötig, Dragosani. Meine Kenntnisse kamen mir damals gut zustatten, und so wird es auch in Zukunft sein. Ein Jahr nach meiner Auferstehung werde ich die größte Macht dieser Welt sein! Oh ja! Früher hätte ich mich mit der Walachei, mit Siebenbürgen, Rumänien oder wie man es auch nennen will, zufriedengegeben – und davor noch war es mir genug, dass die Berge mein waren, die niemand sonst beanspruchte –, doch die Welt ist kleiner geworden und ich größer. Als ich teilnahm an den Kriegen der Menschen, lernte ich die Freuden des Eroberers kennen, und nächstes Mal will ich
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