Auferstehung
Windstoß rüttelte an einem losen Dachziegel, und ein letzter Seufzer erklang.
Schlaf gut, Dragosaaaniii ...
Und zehn Minuten später stand Ilse Kinkovsi im Bauernhaus auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Sie hatte geglaubt, der Wind hätte sie geweckt, doch draußen gab es nicht einmal die kleinste Brise. Egal, denn sie hatte sowieso vorgehabt, vor ein Uhr aufzuwachen. Draußen war alles in silbernes Mondlicht getaucht – doch in der Mansarde des Gästehauses waren die Vorhänge von Boris Dragosani fester zugezogen, als sie es je gesehen hatte. Und das Licht war aus.
Der nächste Tag war ein Mittwoch. Dragosani aß rasch das Frühstück und fuhr mit seinem Wagen um halb neun fort. Er nahm die Straße, die ihn in die Nähe der kreuzförmigen Hügel brachte. Unten in einer Vertiefung westlich jener Hügel lag der Hof, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Seit neun oder zehn Jahren war der Hof im Besitz anderer Leute. Dragosani fand einen Aussichtspunkt an einem wenig benutzten Pfad und sah sich den Hof eine Weile an. Er war ihm gleichgültig geworden. Wenn noch ein kleiner Kloß in seiner Kehle saß, dann rührte er vermutlich vom Staub oder den Pollen in der trockenen Sommerluft her.
Dragosani wandte dem Hof den Rücken zu und betrachtete die Hügel. Er wusste genau, in welche Richtung er blicken musste. Als wären seine Augen die Linsen eines Fernglases, fokussierten sie den Ort und erfassten ihn mit unglaublicher Klarheit und Detailgenauigkeit. Er konnte fast durch den grünen Baldachin aus Bäumen hindurchsehen, bis zu den verfallenen Steinplatten und der Erde darunter. Und wenn er es lange genug versuchte, vielleicht sogar noch tiefer.
Er wandte den Blick ab. Bis Anbruch der Nacht wäre es ohnehin sinnlos, dort hinzugehen. Oder jedenfalls nicht vor dem späten Abend.
Und dann erinnerte er sich an einen anderen Abend, als er noch ein kleiner Junge von sieben Jahren gewesen war ...
Sechs Monate hatte es gedauert, bis er nach jenem ersten Mal wieder an diesen Ort ging. Er war mit seinem Schlitten unterwegs, und sein Hund lief neben ihm her. Bubba war eigentlich ein Hofhund, doch er folgte Boris überallhin. Es gab einen Abhang an der anderen Seite des Hofes, in Richtung des Dorfes, wo die anderen Kinder jeden Winter Schneeballschlachten austrugen und Schlitten fuhren. Boris hätte eigentlich dort sein sollen, aber er kannte eine bessere Abfahrt: die Feuerschneise natürlich. Er wusste auch von jeher, dass diese Hügel verboten waren, und seit dem vorigen Sommer wusste er auch, warum. Die Menschen träumten dort manchmal merkwürdige Dinge, die in der Nacht immer wieder zurückkehrten und sie plagten. Daran musste es liegen. Doch dieses Wissen konnte ihn nicht aufhalten. Es trieb ihn eher noch an.
Nun, da der Schnee tief und fest war, sahen die Hügel gar nicht mehr so bedrohlich aus, und die Feuerschneise war die perfekte Rodelbahn. Boris war ein guter Rodler. Er war schon im letzten Winter hier gewesen, ganz alleine, und sogar im Winter davor, als er noch sehr klein war. Aber heute fuhr er den Abhang nur einmal hinab, und währenddessen sah er nach rechts, ob er die Stelle unter den Bäumen ausmachen konnte. Danach ließ er den Schlitten am Fuß des Hügels stehen und kletterte mit Bubba zwischen den Tannen hinauf, die sich pechschwarz vom Schnee abhoben. Er redete sich ein, nur zurück zum Grab zu gehen, um sich zu vergewissern, dass dort nichts war als die Grabstätte eines alten und lang vergessenen Landbesitzers. Beim ersten Mal hatte er schlecht geträumt, weil er sich den Kopf gestoßen hatte, als er aus seinem Pappwagen geschleudert worden war. Und außerdem hatte er ja schließlich Bubba zum Schutz bei sich.
Allerdings nur so lange, bis der Hund verängstigt kläffte und davonrannte, als sie in die Nähe der geheimen Stätte kamen. Danach sah Boris ihn noch einmal durch einen Spalt in den Bäumen, am Fuß des Hügels neben dem Schlitten, wo er nervös mit dem Schwanz peitschte und ab und zu bellte.
Dann war er endlich dort, und der Ort war genauso wie in seiner Erinnerung. Es war noch dunkler, da der Schnee auf den oberen Ästen auch das wenige Licht abhielt, das sonst herabfiel. Hier, wo keine Schneeflocken lagen, schien der Boden schwarz für Augen, die an den weißen Glanz gewöhnt waren. Wie zuvor schien es kaum Luft an diesem Ort zu geben, und die wenige, die da war, schien von unsichtbaren Wesen erfüllt. Dies war ganz sicher ein Ort der schlechten Träume. Besonders am Abend. Und der
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