Auferstehung 3. Band (German Edition)
schmalen Schultern zuckend:
»Was thun, mein werter Fürst? Die Annullierungsgründe reichten nicht aus!«
Darauf trat er schnell in einen der Schränke, um sich umzukleiden, hinter Wolff kam Selenin, der seinen früheren Freund sofort erkannte.
»Dich erwartete ich nicht, hier zu treffen!« sagte er zu ihm, mit den Lippen lächelnd, während seine Augen ihren traurigen Ausdruck beibehielten.
»Ich wußte nicht, daß du Ober-Staatsanwalt bist!«
»Staatsanwalt,« verbesserte Selenin. »Und was thust du hier?«
»Hier? Ich kam in der Hoffnung, hier Gerechtigkeit und Mitleid für ein ungerecht verurteiltes Weib zu finden,«
»Was für ein Weib?«
»Nun, das, das ihr eben von neuem verurteilt habt.«
»Ach so, die Maslow!« erinnerte sich Selenin. »Ihre Berufung war nicht begründet.«
»Nicht um ihre Berufung handelt es sich, sondern um sie selbst. Sie ist unschuldig, und man bestraft sie ohne Grund.«
Selenin seufzte.
»Ja, das ist möglich, aber ...«
»Das ist nicht nur möglich, es ist gewiß!«
»Woher weißt du das?«
»Ich gehörte zu den Geschworenen, die sie verurteilt haben, und weiß, daß wir in unserer Urteilsfällung einen Irrtum begangen haben.«
Selenin dachte einen Augenblick nach und fuhr fort:
»Du hättest gleich auf den Irrtum aufmerksam machen müssen.«
»Das habe ich gethan!«
»Man hätte das ins Protokoll aufnehmen sollen! Das wäre ein Grund zur Annullierung gewesen.«
»Aber die Prüfung des Falles bewies schon allein zur Genüge, daß das Urteil der Geschworenen widersinnig war!« sagte Nechludoff.
»O, darum hat sich der Senat nicht zu kümmern! Wenn er sich erlaubte, ein Urteil im Namen der Gerechtigkeit zu kassieren, so würde er sich nicht allein bald der Gefahr aussetzen, die Ungerechtigkeit wachsen zu sehen,« versetzte Selenin, indem er an Wolff und den vorher verhandelten Fall dachte, »sondern die Entscheidungen der Geschworenen würden ihre ganze Daseinsberechtigung verlieren.«
»Ich weiß nur, daß dieses Weib unschuldig ist, und daß es jetzt jede Hoffnung verloren hat, ihrer ungeheuerlichen Strafe zu entgehen. Der höchste Gerichtshof hat die Ungerechtigkeit bestätigt!«
»Aber nicht doch, er hat sie nicht bestätigt, denn er hatte sich darum ja gar nicht zu kümmern!« wiederholte Selenin mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme, dann fügte er mit augenscheinlichem Verlangen, den Gesprächsstoff zu wechseln, hinzu: »Man hatte mir gestern gesagt, du wärest hier. Die Gräfin Katharina Iwanowna hat mich neulich abend eingeladen, bei ihr den neuen Propheten zu hören. Ich wäre hingegangen, hätte ich mir denken können, du würdest da sein.«
»Ich war auch da, bin aber angeekelt fortgegangen!«
»Weshalb angeekelt? Es ist auf jeden Fall die Kundgebung eines religiösen Gefühls, so seltsam und verroht dieselbe auch ist!«
»Ach, warum nicht gar! Eine ungeheuerliche Tollheit ist es,« erklärte Nechludoff.
»Aber nicht doch, nicht doch! Das einzige Seltsame und Häßliche dabei ist, daß wir mit den Lehren der Kirche so wenig vertraut sind, daß wir das als etwas Neues betrachten, was nur die Erklärung der Grundlehren unseres Glaubens ist,« sagte Selenin in verlegenem Tone, denn er erinnerte sich, daß er einst vor Nechludoff ganz andere Ideen ausgesprochen hatte.
Nechludoff betrachtete ihn mit großer Aufmerksamkeit, in die sich eine gewisse Ueberraschung mischte. Selenin hielt seinen Blick aus, doch Nechludoff glaubte auf dem Grunde seiner traurigen Augen ein leises Mißtrauen zu bemerken.
»Uebrigens sprechen wir noch darüber,« sagte Selenin, nachdem er dem Nuntius ein Zeichen gegeben, er habe mit ihm zu sprechen – »denn wir müssen uns um jeden Preis wiedersehen. Du triffst mich stets zur Dinerstunde zu Hause.«
Er nannte Nechludoff seine Adresse und schüttelte ihm liebevoll die Hand; dann fügte er, bevor er sich entfernte, hinzu: »Ach, wie viel Wasser ist seit unserer letzten Unterredung die Brücken hinuntergeflossen!«
»Ja, ich werde dich besuchen, wenn ich kann,« versetzte Nechludoff. Doch im Grunde seines Herzens fühlte er, daß in dieser kurzen Begegnung aus einem der Menschen, die er am meisten auf der Welt liebte und achtete, auf immer ein für ihn Fremder, ja fast ein Feind geworden war.
Fünftes Kapitel
Als sie aus dem Senat kamen, gingen Nechludoff und der Advokat zusammen das Trottoir entlang. Der Advokat erzählte Nechludoff die Geschichte des hohen Beamten, von dem sich die Senatoren unterhalten hatten; er
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