Aufgedirndlt
der sie zum außerplanmäßigen Dienst kommandierte.
»Du musst heute bei Emilie übernachten«, eröffnete sie daher der Tochter nach dem Telefonat. Lisa war begeistert. Damit hatte Anne nicht gerechnet. Und sie selbst stand nur eine halbe Stunde später vor dem Rathaus der nördlichsten Gemeinde des Bergsees.
»Was soll das jetzt?«, fragte sie Nonnenmacher, der zusammen mit Sepp Kastner bereits neben dem ehemaligen Pfarrhaus auf sie wartete.
»Sondereinsatz wegen erhöhter Gefahrenlage«, erwiderte der Dienststellenleiter wichtig.
»Wieso?«, wollte Anne wissen.
»Der Bürgermeister hat eine Morddrohung erhalten.«
»Wie?«, entfuhr es Anne für ihre Verhältnisse fast einen Tick zu schrill, so erstaunt war sie.
»Zusammen mit einem Fisch«, antwortete Nonnenmacher trocken. »Überprüfen Sie Ihre Dienstwaffe. Es könnte gefährlich werden. So einen Drohbrief muss man ernst nehmen. Vor allem, wenn man Angehörige einer Religion am See hat, bei der Terror weit verbreitet ist.«
Anne war sich nicht sicher, ob sie diese Aussage ernst nehmen sollte, aber Nonnenmachers Gesichtsausdruck ließ keine Anzeichen von Humor erkennen. Da sie weder antwortete noch etwas unternahm, befahl er: »Waffe überprüfen, jetzt!«
Während Anne ihre Pistole aus dem Holster zog, ergänzte Sepp Kastner die rudimentären Informationen des Inspektionschefs mit den Worten: »Der Drohbrief kam in einem toten Hecht.«
Nun war Anne vollends verwirrt.
»Einen halben Meter war der lang«, fügte Nonnenmacher hinzu. »Und in seinem Maul …« Der Dienststellenleiter winkte einem vorbeikommenden Gemeinderatsmitglied zum Gruß zu. »… war ein Zettel«, vollendete Kastner den Satz.
»Konnte man den noch lesen?«, fragte Anne. »Der war doch sicher total nass?«
»Nein«, präzisierte Kastner, »der Hecht ist damit natürlich nicht herumgeschwommen. Der Verfasser des Briefs hat das Dokument dem Fisch ins Maul gesteckt. Da war der Fisch aber wahrscheinlich schon tot.«
»Das war ganz sicher ein Terrorist!«, übernahm Nonnenmacher nun wieder das Gespräch.
»Vermutlich«, meinte Kastner noch und wollte Anne den genauen Inhalt des Drohbriefs mitteilen, aber Nonnenmacher hatte bereits das Kommando zum Marsch ins Rathaus erteilt.
Im Sitzungssaal saßen der Bürgermeister sowie die neunzehn Gemeinderäte bereits auf ihren Plätzen. In Ermangelung weiterer Sitzgelegenheiten standen hinter ihnen an den Wänden mindestens noch einmal so viele Bürger. Alle schienen aufgeregt, der Lärmpegel war beachtlich.
Nonnenmacher postierte sich hinter dem Bürgermeister, was dieser mit einem dankbaren Nicken quittierte, denn er hatte Angst. Sepp Kastner befahl der Inspektionschef zur Eingangstür, die nun geschlossen wurde, und Anne Loop sollte sich »unauffällig unters Volk mischen«, so der bärtige Polizist. Was sich angesichts der Uniform, die Anne trug, nicht so einfach umsetzen ließ.
Mit einem laut gerufenen »Grüß Gott« eröffnete der Bürgermeister die Sitzung. Trotzdem kehrte keine vollständige Ruhe ein. Vor allem die an den Wänden verteilten Schaulustigen murmelten und flüsterten nervös weiter.
Erst als der Bürgermeister unter Mithilfe seines Stellvertreters ein anscheinend schweres, in Zeitung eingeschlagenes Paket vom Boden neben dem Sitzungstisch hochhob und auf dem Tisch auswickelte, verstummte die Meute. Alle schauten gespannt zu den beiden Ratsvorstehern, die nun mit kommunalpolitischer Würde einen veritablen Hecht aus der Zeitung schälten.
»Das«, sprach der Bürgermeister, »lag heute früh auf meinem Fußabstreifer.« Anne rümpfte die Nase, denn plötzlich roch es im ganzen Sitzungssaal sehr streng nach nicht mehr frischem Fisch. »Und folgender Zettel war auch dabei.« Bedächtig und ernst entfaltete der Bürgermeister ein Blatt Papier und überreichte es dem dritten Bürgermeister. »Lies vor!«
»Achtung. Vertraulich. Drohbrief«, trug der Parteifreund mit wichtiger Miene vor. »Wenn du, Bürgermeister, nicht verhinderst, dass der Araber Kaltenbrunn kauft, braucht man für dich kein Helles mehr zum zapfen.« Er machte eine dramatische Pause und fuhr dann vor: »Gezeichnet, der neue Jennerwein.«
Kaum war das letzte Wort gefallen, brach ohrenbetäubender Lärm los. »›Der neue Jennerwein‹, ja so was, wer soll das sein, ›der neue Jennerwein‹?«, drang es an Annes Ohr. »Das gibt doch überhaupts keinen Sinn. Der Jennerwein war ein Wilderer, kein Fischer!«, tönte ein Gemeinderat, der in Tracht zur
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