Aufgedirndlt
jetzt: »Kaltenbrunn! Gut Kaltenbrunn verspricht er ihnen. Verstehen Sie das denn nicht? Diejenige, die der Scheich zur Frau nimmt, bekommt Gut Kaltenbrunn, Frau Loop. So, und jetzt kommen Sie!«
»Es tut mir leid, Frau Schimmler, wir müssen jetzt los. Auf Wiedersehen«, erwiderte Anne hastig auf die von der Nachbarin nun doch sehr laut geäußerten Worte und zog Lisa mit sich fort.
Natürlich kannte Anne Gut Kaltenbrunn. Wollte man den See an seiner Nordseite umrunden, kam man unweigerlich an dem herrschaftlichen Anwesen vorbei. Sie wusste auch, dass hier früher, bevor sie an den See gezogen war, ein Biergarten gewesen war. Noch heute schwärmten viele im Tal von der Zeit, in der man dort während der Sommermonate in gemütlicher Atmosphäre Bier und Brotzeit hatte genießen können. Doch heute war auf Gut Kaltenbrunn, so viel wusste Anne von ihren Fahrradtouren und Spaziergängen, nichts mehr los. Warum eigentlich?
Am Abend, nachdem sie Lisa ins Bett gebracht hatte, setzte sich die junge Polizistin an den Computer und gab den Begriff »Gut Kaltenbrunn« in die Suchmaschine ein. Während sie die Informationen mit ihren Augen scannte, wurde ihr klar, dass – sollte stimmen, was die Alte ihr so konspirativ erzählt hatte – hier ein gewaltiges Konfliktpotenzial verborgen lag. Denn bei Gut Kaltenbrunn handelte es sich um das bedeutendste archäologische Denkmal des mit historischen Bauten ohnehin reich bestückten Landkreises. In Kaltenbrunn, so las Anne im Internet, hatte sich einst eine mittelalterliche Burganlage befunden, von der aus im achten Jahrhundert die nahe gelegene Benediktinerabtei gegründet worden war, in der sich heute das weit über die Region hinaus bekannte Bräustüberl befand. Auf den Grundmauern der mittelalterlichen Vorburg war im Verlauf der Jahrhunderte der größte Ökonomiehof des hiesigen Klosters entstanden. In den 1970er-Jahren aber hatte ein berüchtigter bayerischer Immobilienspekulant und Inhaber einer Münchner Großbrauerei das Gut erworben. Anfang des neuen Jahrtausends wollte dessen Sohn und Erbe das Gut in ein Luxushotel umbauen. Über die nötigen Mittel verfügte er, wurde er doch von Wirtschaftsmagazinen als einer der dreihundert reichsten Männer der Welt auf ein Vermögen von über drei Milliarden US-Dollar geschätzt. Es wurde geplant, den historischen Vierseithof abzureißen und den Gebäudekomplex insgesamt gewaltig zu vergrößern. Doch dann verstarb der Eigentümer von Kaltenbrunn unter mysteriösen Umständen. Anfangs hatte die Witwe die Idee vom Hotelbau noch weiterverfolgt, dann aber davon Abstand genommen. Der Widerstand war einfach zu groß: Naturschützer befürchteten, dass ein Teil des Hotels einem Naturschutzreservat gefährlich nahe käme, und weniger vermögende Seebewohner, die sich aber der Tradition des Guts verpflichtet fühlten, protestierten ebenfalls heftig gegen die Umgestaltung.
Seither stand das Gut leer und verfiel. Dieser Umstand, so konnte Anne auf mehreren Internetseiten nachlesen, war vielen Bewohnern der Seegemeinden ein Ärgernis, wusste ja keiner, was die Millionenerbin mit dem Gut überhaupt noch anfangen wollte, und das seit Jahren! Wenn es stimmte, dass der Scheich der Gewinnerin des Harems-Castings das Gut schenken wollte, bedeutete dies zwangsläufig, dass die Witwe das urbayerische Baudenkmal bereits an den Emir von Ada Bhai verkauft hatte oder jedenfalls demnächst verkaufen würde. Anne beschloss, den Assistenten des Emirs von Ada Bhai so bald wie möglich zu diesem brisanten Thema zu befragen.
Der Scheich war nun seit einer Woche im Tal. Immer wieder gab es Gerüchte, er habe sich bereits für eine Bewerberin entschieden. Doch weder brach der Ansturm der Frauen ab, noch wurden sie abgewiesen. Die Boutiquen der Dörfer am Bergsee – vor allem jene für Dessous – florierten. Die Buchhandlungen am See bestritten die Hälfte ihres Umsatzes mit dem Verkauf von Arabisch-Wörterbüchern und -Sprachkursen. Die Volkshochschule bot spontan vier Arabisch-Crashkurse parallel an, von denen alle nach Einschreibungsbeginn binnen Minuten ausgebucht waren. An den Uferpromenaden machte die Polizei Jagd auf nicht zugelassene Wahrsagerinnen und Verkäuferinnen von gefälschtem arabischem Schmuck. Einem aus Süditalien angereisten plastischen Chirurgen, der auf dem Schulparkplatz des Gymnasiums in einem Wohnwagen Schönheitsoperationen für den Intimbereich »nach arabischer Tradition« anbieten wollte (ein Mann, der nach eigener Auskunft
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