Aufgedirndlt
Sitzung erschienen war. »Und außerdem hat der mit einem Gewehr gewildert. Und nicht mit Bier«, stellte eine Dame mit mächtig aufgespritzten Lippen den Text des Drohbriefs infrage.
»Ruhe!«, schrie der erste Bürgermeister, und es wurde ein wenig leiser. »Ich denke, es gibt keinen Zweifel, dass das eine unmissverständliche Morddrohung ist. Wenn man für mich kein Helles mehr zapfen muss, heißt das …«, der Bürgermeister machte eine Pause und wirkte mit einem Mal zutiefst niedergeschlagen.
»Dass du tot bist! Aber das werden mir zum verhindern wissen!«, tönte ein Parteimitglied.
Lautstarke Zustimmung erklang, sogar vonseiten der Umweltschützerpartei, die im städtischen Gemeinderat – entgegen der bundesweiten Entwicklung – nur zwei Plätze für sich beanspruchen konnte.
»So etwas haben mir noch nie gehabt!«, rief der Bürgermeister, der dank des Zuspruchs seines Parteifreunds wieder aus seiner kurzfristigen Niedergeschlagenheit herausgefunden hatte. Erneute stimmgewaltige Zustimmung. »Ich sag’ es ehrlich: Ich nehm’ das ernst. Deswegen – heute – Polizeischutz.« Er drehte sich um und nickte Nonnenmacher zu, danach Sepp Kastner und Anne Loop. »Aber was soll man tun?«
Ungefragt ergriff einer der beiden Umweltschützer das Wort, leider war er nur des Hochdeutschen mächtig: »Herr Bürgermeister, jetzt gaukeln Sie uns doch nicht vor, dass Sie nicht wüssten, was zu tun ist! Wir haben bereits vor zwei Jahren das Konzept für einen Ankauf von Gut Kaltenbrunn durch unsere Kommune vorgelegt. Unser eigens gegründeter Verein ›Grüner See, grüne Seele e.V.‹ und die nachhaltige Investorengruppe stehen doch schon längst in den Startlöchern!«
»Ja, so weit kommt’s noch«, empörte sich ein anderer Gemeinderat. »Dass mir uns für euer Jugendlichen-Umerziehungslager Nachwuchsverbrecher aus ganz Osteuropa nach Kaltenbrunn holen. Abgeschoben gehören die!«
»Ich bitte Sie, Herr Kollege! Das ist wirklich ein nachhaltiges Konzept. Besser kann man die Vorzüge einer modernen Resozialisierung von Straftätern mit sinnvollen Umweltschutzgedanken nicht verknüpfen«, beharrte der Redner von der Umweltschützerpartei.
»Unsere Gemeinde kann sich Kaltenbrunn doch überhaupts nicht leisten«, rief ein anderer. »Und straffällige Jugendliche haben mir sowieso schon genug. Gerade letzte Woche haben’s wieder einen Kaugummiautomaten angezündet!«
»Und außerdem«, schrie jetzt der Bürgermeister, »haben mir das doch mitnichten in der Hand! Wenn der Scheich sich mit der Erbin von Kaltenbrunn einigt, dann können mir einpacken. So ist das. – Und ich muss um mein Leben fürchten.« Er zögerte kurz und sah dann zu einem jungen Mann, der an einem kleinen Tischchen an der Wand saß und sich eifrig Notizen machte: »Das können’S in Ihrer Zeitung jetzt ruhig einmal so schreiben, wie es ist, Herr Folontär: Dass wir erstens hochgefährdet sind und zweitens als Gemeinde null Einfluss darauf haben, was mit Kaltenbrunn passiert. Die Eigentümerin entscheidet. Und wenn die das dem Scheich verkauft, dann schauen mir mit dem Ofenrohr ins Gebirge.«
»Scheich raus!«, schrie jetzt einer der Besucher. Und dann wieder: »Scheich raus!« Nach dem dritten »Scheich raus!« schlossen sich bereits mindestens vier weitere Anwesende den Rufen an.
»Ruhe!«, brüllte der Bürgermeister erneut, doch erfolglos. Der Geräuschpegel blieb gleichbleibend hoch.
Trotz des Lärms konnte Anne das Gespräch zwischen zwei Besuchern belauschen, die direkt vor ihr standen. Der eine roch nach Pferdemist, der andere nach einem aggressiven moschushaltigen Rasierwasser.
»Unsere Andrea will sich jetzt auch beim Scheich bewerben.«
»Warum?«
»Seit die in Berlin war, spinnt die.«
»Warum?«
»Die Andrea sagt, der Scheich hat Charisma.«
»Au weh, glaubst du, der war deswegen schon beim Arzt?«
»Charisma ist doch keine Krankheit! Charisma heißt Ausstrahlung.«
»Ach so.«
»Außerdem hat’s g’sagt, dass eh alle Männer schlecht sind.«
»Ist die Andrea vielleicht vom andern Ufer?«
»Nein, nein«, erwiderte der nach Moschus Duftende erschrocken, »die war doch jahrelang im Trachtenverein. Und einen Freund hat’s auch gehabt, bevor’s nach Berlin ist.«
»Und der?«
»Ist nicht reich.«
»Ach so … ja dann!«
»Ja, eben.«
Die beiden Männer schwiegen kurz, und aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Anne, wie der erste Bürgermeister dem dritten Bürgermeister etwas ins Ohr flüsterte. Doch dann
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