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Aufgedirndlt

Aufgedirndlt

Titel: Aufgedirndlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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selbst geschreinerten Wandschrank verschwinden lassen und übte sich scheinbar konzentriert in der Ermittlung von Stammfunktionstermen und der Ableitung gebrochen-rationaler Funktionen.
    Dass die Polizisten Anton Graf am frühen Nachmittag zu Hause antrafen, war nicht selbstverständlich, denn seit der Einführung des achtstufigen Gymnasiums hielten sich die Schüler meist nur noch in den späten Abendstunden und während der Nacht zu Hause auf, denn die Schule war zum Fulltime-Job geworden. Aber Anton Graf kam dieser Stress zugute, denn je mehr Leistungsdruck seine Altersgenossen verspürten, umso interessierter waren sie an den chemischen Erzeugnissen seines Labors – dienten jene doch allesamt der rauschhaften Entspannung.
    »Grüß dich«, sagte Kastner, der ohne anzuklopfen das Zimmer betreten hatte. »Mir sind von der Polizei.«
    »Das seh’ ich«, erwiderte der Schüler gelassen. »Sie tragen ja schließlich Uniform.«
    »Hallo«, grüßte auch Anne und warf einen interessierten Blick auf das über dem Bett hängende Poster. Es zeigte eine Frau mit leuchtend grüner Perücke, die in eine transparente Ganzkörper-Seidenstrumpfhose gewandet war, sodass man unschwer fast alle primären Geschlechtsmerkmale studieren konnte. Anne erkannte die Person sofort, es handelte sich um die Popmusikerin, die sich selbst und aus freien Stücken einen Gaga-Namen verliehen hatte und – aus Anne nicht nachvollziehbaren Gründen – als Stilikone galt.
    Der Schüler verzichtete auf weitere Worte und wartete ab. Mit Verhörsituationen kannte er sich bestens aus. Denn natürlich hatte er erwartet, eines Tages Besuch von der Polizei zu bekommen, und hatte deswegen auf einem allseits beliebten Online-Portal für Filmschnipsel stundenlang solche Situationen analysiert. Sein Fazit: Ganz gleich, ob es sich um Darth Vader, den guten alten Kottan oder die Tatort-Filme handelte – für die Verhörten war es immer dann gut gelaufen, wenn sie wenig geredet hatten.
    »Wir haben gehört, dass du gut in Chemie bist«, begann Anne vorsichtig die Vernehmung.
    Der Elftklässler nickte. »Stimmt.«
    »Und dass du manchmal auch zu Hause Versuche machst, stimmt ebenso, oder?«, fragte Anne weiter.
    Doch da sagte der Schüler »Stopp« und hob die flache Hand. »Das war eine Suggestivfrage.«
    »Ja und?«, blaffte Kastner ihn an.
    »Ich werde mir von Ihnen keine Aussagen unterjubeln lassen«, sagte der Schüler abgebrüht.
    »Aber das ist doch jetzt albern«, meinte Anne ebenso ruhig. »Also, was ist mit deinen Versuchen? Machst du welche?«
    »Schon«, meinte der Schüler jetzt.
    »Was sind denn das für Versuche?«, fragte Anne vorsichtig weiter.
    »Alles Mögliche.«
    Jetzt verlor Kastner, der durch den morgendlichen Einsatz im Zeltlager schon reichlich Nerven eingebüßt hatte, die Geduld. »Ja, was bist du denn für ein Brezensalzer! Was soll das blöde Getue? ›Alles Mögliche!‹ Dann fragen mir jetzt halt einmal direkt: Hast du auch schon einmal Liquid Ecstasy gemacht?«
    »Sie haben mich nicht über mein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt«, wehrte der Schüler geistesgegenwärtig die Frage ab; Brezensalzer hatte ihn noch keiner genannt.
    Nun rückte ihm Kastner auch körperlich näher. Er ging direkt vor dem Schüler, der auf seinem Schreibtischstuhl saß, in die Knie und schnaubte ihm ins Gesicht: »Jetzt pass einmal auf, Burschi. Mir ermitteln hier in einem Mordfall. Und du bist verdächtig, weil mir nämlich erfahren haben, dass du hier im Tal einer der besten Liquid-Ecstasy-Hersteller bist. Wenn du jetzt nicht kooperierst, dann kannst’ eh einpacken. Dann nehmen mir dich mit, und du kommst in Untersuchungshaft. Dann kannst’ dir deine Ferien, die demnächst anfangen, sonst wo hinstecken.«
    »Ich fliege mit meinen Kumpels nach Ibiza.«
    »Dann würde ich an deiner Stelle jetzt lieber mal ein bisschen mitmachen«, schaltete Anne sich wieder in das Gespräch ein. »Sonst ist Ibiza gestrichen. Weißt du denn, wie man Liquid Ecstasy macht?«
    »Das weiß doch jeder«, meinte der Junge aufmüpfig. »Das ist total einfach. Steht sogar im Internet.«
    »Wo warst du am Abend vom Seefest?«, fragte jetzt wieder Kastner.
    »Ebendort«, antwortete der Schüler.
    »Was ›ebendort‹?«, wollte Kastner wissen.
    »Na ja, im Internet halt!«, lautete die trotzige Antwort.
    »Kennst du dieses Mädchen?« Anne hielt dem Teenager ein Foto der toten Madleen Simon vors Gesicht.
    Ohne zu zögern, schüttelte Anton Graf den Kopf und fragte:

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