Aufruhr in Oxford
Mühe, dachte sie, während sie den Brief noch einmal genau durchlas. Wenn ich Miss de Vine glauben wollte, könnte ich mir jetzt allmählich einbilden – zum Kuckuck auch mit diesen Studentinnen! – Hält man es vielleicht für möglich, daß jemand für einen simplen Brief geschlagene zwei Stunden braucht?
Sie steckte den Brief entschlossen in einen Umschlag und adressierte und frankierte ihn. Niemand öffnet einen Brief, auf den er schon eine teure Marke geklebt hat, noch einmal. Die Sache war erledigt. Jetzt konnte sie sich ein paar Stunden ganz den Angelegenheiten Sheridan Lefanus widmen.
Sie arbeitete frisch drauflos bis halb elf. Der Krach in den Gängen legte sich; die Worte flossen ihr glatt aus der Feder. Von Zeit zu Zeit hob sie den Blick von ihrer Arbeit, zögernd über einem Wort, und sah durchs Fenster die Lichter des Burleigh- und des Queen-Elizabeth-Baus über den Hof zurückblinken, Spiegelbilder ihres eigenen. Hinter vielen dieser erhellten Fenster waren sicher fröhliche Partys im Gange, wie hier im Anbau; andere Lampen leuchteten jemandem wie ihr, der in eitlem Streben nach Wissen Papier mit Tinte bedeckte, da und dort stockend über einem Ausdruck. Sie fühlte sich als lebendiges Teil einer Gemeinschaft, die einem gemeinsamen Ziel diente. «Wilkie Collins», schrieb Harriet, «war in seiner Abhandlung des Übernatürlichen stets behindert durch seinen verhängnisvollen Drang» – (konnte man durch einen Drang behindert sein? Warum nicht? Lassen wir’s im Augenblick mal so stehen) – «durch seinen verhängnisvollen Drang, alles erklären zu wollen. Seine juristische Ausbildung –» Quatsch! Viel zu lang. «… stets behindert durch die verhängnisvolle Neigung des Juristen, alles erklären zu wollen. Seine Geister und Ghule –»
Nein, das klang zu gewollt – «Seine Traumgebilde und Erscheinungen bemühen sich zu sehr, sich sittsam in ihre Laken zu hüllen und nur ja keine Fragen offenzulassen, die uns irritieren könnten. In Lefanu hingegen finden wir den geborenen Schöpfer – geborenen Meister des – den Meister des Unheimlichen, dem die Meisterschaft von Natur aus gegeben ist. Wenn wir einen Vergleich –»
Ehe der Vergleich zustandekam, ging plötzlich das Licht aus.
«Mist!» schimpfte Harriet. Sie stand auf und drückte auf den Wandschalter. Nichts geschah. «Ein Kurzschluß», sagte sie und öffnete die Tür, um nachzusehen. Der Korridor lag im Dunkeln, und laut geäußerte Empörung auf beiden Seiten des Flurs verkündete, daß im ganzen Tudor-Bau das Licht ausgegangen war.
Harriet schnappte sich ihre Taschenlampe vom Tisch und wandte sich nach rechts ins Hauptgebäude. Bald befand sie sich mitten in einer Horde von Studentinnen; einige hatten Taschenlampen, andere hielten sich an die Taschenlampenbesitzerinnen, und alle forderten lautstark Aufklärung, was mit dem Licht los sei.
« Ruhe! »rief Harriet und versuchte hinter den blendenden Lampen ein ihr bekanntes Gesicht auszumachen. «Die Hauptsicherung muß durchgebrannt sein. Wo ist der Sicherungskasten?»
«Ich glaube, unter der Treppe», sagte jemand.
«Bleiben Sie, wo Sie sind», sagte Harriet. «Ich gehe mal nachsehen.»
Natürlich blieb keine, wo sie war. Alle folgten ihr hilfsbereit und wütend nach unten.
«Das war der Poltergeist», sagte eine.
«Diesmal kriegen wir ihn aber», meinte eine andere.
«Vielleicht ist es aber wirklich nur die Sicherung», wandte eine schüchterne Stimme aus der Dunkelheit ein.
«Von wegen Sicherung!» rief eine lautere Stimme verächtlich.
«Wie oft brennt schon eine Hauptsicherung durch?» Dann in erschrockenem Flüsterton: «Heiliger Strohsack, das war die Chilperic. Hätte ich bloß nichts gesagt!»
«Sind Sie das, Miss Chilperic?» rief Harriet, froh, auf eine der Professorinnen gestoßen zu sein. «Haben Sie Miss Barton irgendwo gesehen?»
«Nein, ich komme gerade aus dem Bett.»
«Miss Barton ist nicht hier», sagte eine Stimme aus der Eingangshalle unten, und eine andere Stimme fiel ein:
«Jemand hat die Hauptsicherung herausgerissen und mitgenommen!»
Und in dem Moment ertönte vom anderen Ende des unteren Korridors ein schriller Schrei: «Da läuft sie! Seht doch! Da drüben über den Hof!»
Harriet wurde von etwa zwanzig bis dreißig Studentinnen mitgerissen, die wie die wilde Jagd die Treppe hinunterstürmten und sich denen anschlossen, die sich unten bereits in der Eingangshalle drängten. Vor der Tür gab’s einen schweren Kampf. Sie verlor Miss
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