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Aufruhr in Oxford

Aufruhr in Oxford

Titel: Aufruhr in Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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ersparen, wenn ich die Missetäterin kurzerhand als X bezeichne. Wenn X gewartet hätte, bis das Trimester begann, hätten wir uns mit einem wesentlich größeren Verdächtigenkreis befassen müssen. Ich habe mich darum gefragt, was X bei der Jahresfeier so erregt haben kann, daß sie keinen geeigneteren Zeitpunkt abwarten konnte.
    Es war unwahrscheinlich, daß eine der anwesenden ehemaligen Studentinnen in X eine solche Erbitterung hervorgerufen hat, denn die Demonstrationen setzten sich ja im darauffolgenden Trimester fort. Hingegen dauerten sie nicht auch während der großen Ferien an. Folglich richtete sich meine Aufmerksamkeit sofort auf solche Personen, die zur Jahresfeier erstmals ins College gekommen waren und dann ab dem nächsten Trimester im College wohnten. Nur eine Person erfüllte diese Voraussetzungen, und das war Miss de Vine.»
    Die erste Unruhe pflanzte sich um den Tisch herum fort wie eine Windbö, die über ein Kornfeld streicht.
    «Die ersten beiden Schriftstücke landeten bei Miss Vane. Eines davon, das sich sogar zum Vorwurf des Mordes verstieg, wurde ihr in den Talarärmel gesteckt und konnte infolge eines irreführenden Zufalls als an sie gerichtet mißverstanden werden; Aber Miss Martin wird sich noch erinnern, daß sie Miss Vanes Talar zusammen mit dem von Miss de Vine in den Dozentenraum gelegt hatte. Ich nehme an, daß X den Zettel in den falschen Talar gesteckt hat, weil sie ‹H. D. Vane› irrtümlich als ‹H. de Vine› gelesen hatte. Diese Annahme ist natürlich nicht beweisbar; sie hat aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Dieses Versehen, wenn es eines war, lenkte die Aufmerksamkeit von Anfang an von der eigentlichen Zielperson der ganzen Kampagne ab.»
    Nichts änderte sich an seinem gleichmütigen Ton, als er die alte Schmach in Erinnerung rief, um sie im nächsten Atemzug wieder der Vergessenheit anheimzugeben, aber die Hand, welche die ihre gehalten hatte, ballte sich für einen kurzen Augenblick zusammen und entspannte sich wieder. Sie ertappte sich dabei, wie sie diese Hand beobachtete, die jetzt in den Papieren kramte.
    «Das zweite Schriftstück, das Miss Vane zufällig auf dem Hof auflas, wurde wie das erste verbrannt, aber aus seiner Beschreibung entnehme ich, daß es eine Zeichnung ähnlich dieser war.» Er zog ein Blatt Papier aus dem Stoß heraus und reichte es der Rektorin weiter. «Es stellt die Züchtigung einer in akademische Tracht gekleideten Gestalt undefinierbaren Geschlechts durch eine nackte weibliche Gestalt dar. Dies scheint der symbolische Schlüssel zu der Situation zu sein. Im Herbsttrimester tauchten dann weitere Zeichnungen ähnlicher Art auf, zusammen mit dem Motiv der Erhängung irgendeiner akademischen Gestalt – ein Motiv, das sich bei der später in der Kapelle aufgehängten Puppe wiederholte.
    Zudem gab es Schriftstücke obszönen und drohenden Inhalts, mit denen wir uns nicht näher zu befassen brauchen. Die interessantesten und wichtigsten davon sind die – ich glaube an Miss Hillyard gerichtete – Mitteilung: ‹Vor Frauen wie Ihnen ist kein Mann sicher›, sowie ein anderes, an Miss Flaxman gerichtetes Schreiben, in dem diese aufgefordert wird, den Verlobten einer Kommilitonin in Ruhe zu lassen. Das ließ den Schluß zu, X sei nichts weiter als von ganz gewöhnlicher sexueller Eifersucht geplagt – eine Folgerung, die ich hingegen für völlig irrig halte und die das ganze Problem auf geradezu groteske Weise verdunkelt hat.
    Wir kommen nun (wenn wir die Talarverbrennung auf dem Hof übergehen) zu dem schon ernsteren Vorfall mit Miss Lydgates Manuskript. Ich halte es nicht für Zufall, daß die am schlimmsten beschädigten und besudelten Manuskriptteile gerade diejenigen waren, in denen Miss Lydgate die Aussagen anderer Gelehrter angreift, wobei diese anderen Gelehrten Männer sind. Wenn ich recht habe, ersehen wir daraus, daß es sich bei X um eine Person handelt, die durchaus imstande ist, ein wissenschaftliches Werk zu lesen und bis zu einem gewissen Grade auch zu verstehen. In diese Richtung weist auch die Verstümmelung des Romans Die Suche gerade an der Stelle, wo der Autor dafür eintritt, oder dafür einzutreten scheint, daß Treue zu einer abstrakten Wahrheit Vorrang vor persönlichen Rücksichten haben müsse; desgleichen die Verbrennung von Miss Bartons Buch, in dem sie die Nazi-Doktrin angreift, der Platz der Frau in der Gesellschaft habe sich auf die ‹weiblichen› Bereiche ‹Kinder, Küche, Kirche› zu

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