Aufruhr in Oxford
ich muß jetzt aber in meine Vorlesung. Sowie ich Zeit finde, werde ich mich bemühen, Ihnen über alle meine Schritte von gestern abend genau Rechenschaft abzulegen. Ich fürchte nur, daß dies auch nicht viel zur Erhellung beiträgt. Ich war nämlich nach dem Abendessen in meinem Zimmer und ab halb elf im Bett.»
Sie stolzierte mit ihrem Talar und Barett hinaus. Harriet sah ihr nach, dann holte sie ein Blatt Papier aus einer Schublade hervor. Der Text darauf war in der üblichen Weise zusammengeklebt und lautete:
Tristius haud Ulis monstrum nec saevior ulla
pestis et ira deum Stygiis sese extulit undis.
Virginei volucrum vultus foedissima ventris
proluvies uncaeque manus et pallida semper
ora fame.
«Harpyien», sagte Harriet laut. «Harpyien. Das läßt auf einen bestimmten Gedankengang schließen. Aber wir können wohl Emily und den anderen Hausmädchen nicht unterstellen, daß sie ihre Gefühle in Vergilschen Hexametern ausdrücken.»
Sie zog die Stirn kraus. Es sah ziemlich böse aus für das Professorinnenkollegium.
Harriet klopfte an Miss Cattermoles Tür, ohne das große Schild zu beachten, das daran hing: KOPFWEH – BITTE NICHT STÖREN. Die Tür wurde von Miss Briggs geöffnet, deren sorgenvolle Miene sich aufhellte, als sie sah, wer die Besucherin war.
«Ich hatte schon gefürchtet, es ist die Dekanin», sagte Miss Briggs.
«Nein», sagte Harriet, «bisher habe ich es für mich behalten. Wie geht’s der Patientin?»
«Nicht besonders», sagte Miss Briggs.
«Aha! ‹Seine Lordschaft hat das Bad ausgetrunken und sich wieder zu Bett begeben.› So ähnlich habe ich mir das vorgestellt.»
Sie trat ans Bett und blickte auf Miss Cattermole hinab, die stöhnend die Augen aufschlug. Es waren große hellbraune Augen in einem pummeligen Gesicht, das eigentlich von angenehm rosiger Farbe hätte sein sollen. Fülliges, flaumiges braunes Haar klebte feucht um die Stirn und verstärkte noch die Ähnlichkeit mit einem Angorakaninchen, das über die Stränge geschlagen hat und sich nun über die Folgen wundert.
«Scheußliches Gefühl, ja?» erkundigte Harriet sich mitfühlend.
«Gräßlich», bestätigte Miss Cattermole.
«Geschieht Ihnen recht», sagte Harriet. «Wenn Sie schon trinken müssen wie ein Mann, könnten Sie es anschließend wenigstens tragen wie ein Gentleman. Es ist ganz gut, wenn man seine Grenzen kennenlernt.»
Miss Cattermole machte so ein jammervolles Gesicht, daß Harriet lachen mußte. «Sie scheinen in solchen Dingen nicht viel Übung zu haben. Passen Sie mal auf, ich werde Ihnen etwas besorgen, was Sie wieder hochbringt, und dann will ich mal ein Wörtchen mit Ihnen reden.»
Sie ging entschlossen hinaus und fiel vor der Tür beinahe über Mr. Pomfret.
«Sie hier?» fragte Harriet. «Ich habe Ihnen doch gesagt, kein Besuch am Vormittag. Das stört und ist gegen die Vorschriften.»
«Ich bin ja kein Besucher», gab Mr. Pomfret grinsend zurück.
«Ich war in Miss Hillyards Vorlesung über Verfassungsgeschichte.»
«Um Gottes willen!»
«Und als ich Sie in diese Richtung über den Hof gehen sah, habe ich mich eben in diese Richtung gewandt wie die Kompaßnadel nach Norden. Dunkel», sagte Mr. Pomfret feurig, «dunkel, wahr und gütig ist der Norden. Das ist ein Zitat. Es ist so ziemlich das einzige, das ich kenne, darum trifft es sich so gut, daß es hier paßt.»
«Es paßt überhaupt nicht. Ich bin gar nicht gütig aufgelegt.»
«Oh! … Wie geht’s Miss Cattermole?»
«Ein böser Kater. Wie zu erwarten.»
«Oh … es tut mir so leid … kein Ärger, hoffe ich?»
«Nein.»
«Gott sei Dank!» sagte Mr. Pomfret. «Ich hatte übrigens auch Glück. Ein Freund von mir hat ein prima Fenster. Alles ruhig an der Westfront. Also – hören Sie, ich wollte, ich könnte irgendwas für …»
«Sie können etwas für sie tun», sagte Harriet. Sie nahm ihm sein Notizheft unterm Arm weg und kritzelte rasch etwas hinein.
«Lassen Sie sich das in der Apotheke zubereiten und bringen Sie’s her. Ich habe keine Lust, da selbst hinzugehen und mir etwas gegen eine verkorkste Leber geben zu lassen.»
Mr. Pomfret sah sie voll Hochachtung an.
«Wo haben Sie denn so was gelernt?» fragte er.
«In Oxford bestimmt nicht. Ich darf sagen, daß ich noch nie in der Verlegenheit war, selbst davon zu kosten; hoffentlich schmeckt es wie Gift. Übrigens, je schneller Sie das besorgen, desto besser.»
«Ich weiß, ich weiß», jammerte Mr. Pomfret zerknirscht. «Sie können mich
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