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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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ganzer Seele vor jeder Exzentrizität in mir. Aber wie sollte ich das aushalten? Ich war entwickelt bis zum Krankhaften, wie es sich für einen Menschen unserer Zeit gehört. Sie aber waren alle stumpfsinnig und glichen einander wie die Hammel einer Herde. Vielleicht schien es mir als einzigem in der ganzen Kanzlei, daß ich ein Feigling und Sklave sei, vielleicht schien es mir gerade deshalb so, weil ich so entwickelt war. Aber es schien mir nicht nur so, sondern es war auch wirklich der Fall: ich war ein Feigling und ein Sklave. Ich sage das ohne jede Verlegenheit. Jeder anständige Mensch unserer Zeit ist ein Feigling oder ein Sklave und muß es sein. Das ist sein normaler Zustand. Davon bin ich tief überzeugt. So ist er beschaffen und dafür ist er geschaffen. Und nicht nur in der Gegenwart, nicht nur infolge irgendwelcher zufälligen Umstände, sondern überhaupt zu allen Zeiten muß ein anständiger Mensch ein Feigling und Sklave sein. Das ist ein Naturgesetz für alle anständigen Menschen auf Erden. Und sollte es einmal vorkommen, daß einer von ihnen sich tapfer zeigt, so braucht er sich deshalb noch nichts einzubilden und sich nicht gleich am eigenen Mut zu berauschen; bei nächster Gelegenheit wird er schon den kürzeren ziehen. Das ist seine einzige und ewige Aussicht. Tapfer sind nur die Esel und ihre Bastarde und selbst die nur bis zu der bewußten Mauer. Aber es lohnt nicht, sie weiter zu beachten, denn sie spielen überhaupt keine Rolle.
    Und noch ein Umstand quälte mich damals: daß mir niemand glich und auch ich keinem ähnlich war. “Ich bin Einer, und sie sind Alle ”; dachte ich und – begann zu grübeln.
    Daraus ist zu ersehen, daß ich noch ein ganz grüner Junge war.
    Mitunter geschah aber auch das Entgegengesetzte. Zuweilen widerte mich der Dienst über alle Maßen an; es ging so weit, daß ich häufig ganz krank aus der Kanzlei nach Hause kam. Und plötzlich beginnt dann wiederum, mir nichts, dir nichts, eine Periode der Skepsis und Gleichgültigkeit (bei mir geschah alles in Perioden), und siehe, da lache ich selbst über meine Unduldsamkeit und meinen Ekel und werfe mir Romantizismus vor. Bald will ich überhaupt nicht reden, bald werde ich nicht nur gesprächig, sondern sogar zutraulich. Der ganze Ekel ist im Handumdrehn, mir nichts, dir nichts, verflogen. Wer weiß, vielleicht war ich auch nie von ihm befallen, vielleicht war er nur gespielt, angelesen? Bis jetzt habe ich diese Frage noch nicht lösen können. Einmal hatte ich mich schon ganz mit den Anderen angefreundet, ich machte ihnen meine Aufwartung, spielte Préférence, trank Wodka, unterhielt mich über nationalökonomische Fragen … Aber erlauben Sie mir, hier einige vom Thema abweichende Worte einzuschalten.
    Bei uns Russen, ganz allgemein gesprochen, hat es niemals jene törichten deutschen und besonders französischen Romantiker gegeben, die über den Sternen thronen und sich durch nichts beirren lassen, mag auch die Erde unter ihnen bersten, mag auch ganz Frankreich auf den Barrikaden zugrunde gehen – sie bleiben immer dieselben, sie werden sich nicht einmal anstandshalber verändern, und sie singen ihre weltentrückten Lieder fort, bis an ihr Lebensende, denn sie sind Toren. Bei uns, das heißt in russischen Landen, gibt es keine Toren; das weiß jeder: eben dadurch unterscheiden wir uns von den übrigen europäischen Ländern. Folglich gibt es bei uns keine weltentrückten Naturen in Reinkultur. Das haben unsere damaligen ›positiven‹ Publizisten und Kritiker auf der Jagd nach Kostanschoglo und Onkelchen Pjotr Iwanowitsch, die sie törichterweise für unser aller Ideal gehalten haben, unseren Romantikern in die Schuhe geschoben, indem sie diese für ebenso weltentrückt hielten wie jene in Deutschland oder in Frankreich. Im Gegenteil, die Eigenschaften unseres Romantikers sind denen des europäisch-weltentrückten gerade entgegengesetzt und lassen sich darum mit keinem europäischen Maß messen. (Sie müssen mir schon gestatten, dieses Wort ›Romantiker‹ zu gebrauchen. Ein althergebrachtes Wörtchen, ehrwürdig, verdient und geläufig.) Die Eigenschaften unseres Romantikers sind: alles verstehen, alles sehen und häufig unvergleichlich deutlicher sehen als unsere allerpositivsten klugen Köpfe; sich mit niemandem und nichts zufriedengeben, gleichzeitig aber auch nichts verschmähen; allem ausweichen; allem diplomatisch nachgeben; dauernd das nützliche, praktische Ziel im Auge behalten (irgendwelche

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