Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
die Langeweile auf; hysterisches Verlangen nach Widersprüchen, nach Kontrasten überkam mich, und so stürzte ich mich in Liederlichkeiten. Das sage ich durchaus nicht zu meiner Rechtfertigung … Doch nein, stimmt nicht! Gelogen! Ich habe mich ja gerade rechtfertigen wollen. Diese Bemerkung mache ich nur für mich, meine Herrschaften, für mich allein. Ich will nicht lügen. Ich habe mir das Wort gegeben.
Ich trieb mein Unwesen verstohlen, nachts, heimlich, ängstlich, schmutzig, mit einer Scham, die mich selbst in den ekelhaftesten Minuten nicht verließ, ja sogar gerade in solchen Minuten zu einem Fluch wurde. Schon damals trug ich das Kellerloch in meiner Seele. Ich fürchtete mich bis zum Entsetzen, daß man mich vielleicht irgendwie sehen, mir begegnen, mich erkennen könnte. Ich suchte die dunkelsten Gegenden auf.
Einmal, als ich nachts an einem schäbigen Restaurant vorüberkam, sah ich durch das Fenster, wie sich einige Herrschaften am Billard mit den Queues prügelten und wie dann jemand durchs Fenster hinausbefördert wurde. Zu jeder anderen Zeit hätte es mich angewidert; damals jedoch kam plötzlich eine solche Stimmung über mich, daß ich diesen hinausgeworfenen Herrn einfach beneidete, dermaßen beneidete, daß ich sofort hineinging und das Billardzimmer betrat: “Vielleicht werde ich mich auch prügeln und auch durch das Fenster hinausfliegen.”
Ich war nicht betrunken, aber was soll man machen – die Langeweile kann einen bis zur Hysterie quälen! Es wurde aber nichts daraus. Es hat sich herausgestellt, daß ich nicht einmal zum Fenstersprung befähigt war, ich ging unverprügelt fort.
Gleich im ersten Moment wurde ich von einem Offizier abgefertigt.
Ich stand am Billard und versperrte ihm ahnungslos den Weg, er aber mußte vorbei; so packte er mich denn an den Schultern – ohne Warnung oder Erklärung –, stellte mich von dem Platz, wo ich stand, auf einen anderen und ging weiter, als hätte er überhaupt nichts bemerkt. Ich hätte sogar Prügel verziehen, doch ich konnte keineswegs verzeihen, daß er mich so einfach beiseite stellte und vollständig übersah.
Der Teufel weiß, was ich damals nicht alles für einen wirklichen, richtigen Streit gegeben hätte, für einen anständigeren, für einen – sagen wir – mehr literarischen ! Man hat mich wie eine Fliege behandelt. Nun war dieser Offizier ein Hüne; ich aber bin klein und ausgemergelt. Übrigens lag es ja in meiner Macht, es zu einem Streit kommen zu lassen: ich hätte nur zu protestieren brauchen, und man hätte mich selbstverständlich aus dem Fenster geworfen. Aber ich überlegte und zog vor, mich … ergrimmt zu verziehen.
Ich verließ das Restaurant verwirrt und erregt, ging geradewegs nach Hause, am nächsten Tag aber setzte ich meine Ausschweifungen wieder fort, noch zaghafter, noch schüchterner, noch trauriger als zuvor, gleichsam mit Tränen in den Augen – aber ich setzte sie fort. Sie brauchen übrigens nicht zu glauben, daß ich aus Feigheit mich vor dem Offizier feige verzogen habe: in meiner Seele bin ich niemals feige gewesen, wenn ich mich auch im Leben immer feige benommen habe, aber – lachen Sie nicht – dafür gibt es eine Erklärung; ich habe für alles eine Erklärung, seien Sie überzeugt.
Oh, wenn dieser Offizier zu denjenigen gehört hätte, die sich zu duellieren pflegen! Aber nein – das war gerade einer von jenen (leider schon längst nicht mehr vorhandenen) Herrschaften, die es vorzogen, mit dem Queue oder, wie der Leutnant Pirogow bei Gogol, vermittels ihres Vorgesetzten zu handeln. Fordern jedoch lassen sie sich nie; und sich mit unsereinem zu schlagen, würden sie unter allen Umständen für ungehörig halten – überhaupt halten sie das Duell für etwas Verrücktes, Freidenkerisches, Französisches, teilen aber selbst nicht selten Beleidigungen aus, besonders wenn sie von hünenhafter Gestalt sind.
Ich habe mich nicht aus Feigheit feige verzogen, sondern aus grenzenloser Eitelkeit. Nicht vor der hünenhaften Gestalt schreckte ich zurück und auch nicht vor der Aussicht, schmerzhaft verprügelt und aus dem Fenster geworfen zu werden; physischen Mut hatte ich wahrlich genug; aber der moralische Mut reichte nicht hin. Ich fürchtete, daß die Anwesenden alle – von dem unverschämten Marqueur bis zu dem letzten ranzigen, finnigen kleinen Beamten, der sich dort herumtrieb, mit speckigem Kragen – mich nicht verstehen und mich auslachen würden, sobald ich protestierte und
Weitere Kostenlose Bücher