Aufzeichnungen eines Außenseiters
daß man bei diesem siamesischen Zwilling nicht mehr weiß, was vorne und hinten ist. Früher, da war die religiöse Masche noch in kompetenten Händen. Ich meine nicht die Kirchen — das war schon immer eine müde Angelegenheit —, sondern die kleinen weißgestrichenen Buden an der Straße. Mann, ging es da rund. Ich hockte mich nachts immer rein, nachdem ich aus sämtlichen Bars geflogen war, und hörte zu. Es war allemal besser als nach Hause gehen und sich einen runterholen. Am besten florierte der Schwindel in Los Angeles, dicht gefolgt von New York und Philadelphia. Wahre Künstler waren das, diese Prediger. Ich bin ziemlich abgebrüht, aber die Burschen brachten mich fast so weit, daß ich mich in ekstatischer Verzückung auf dem Boden wälzte. Und man sah, daß die Typen selber noch gegen ihren letzten Kater ankämpften, ihre blutunterlaufenen Augen traten ihnen aus dem Kopf, und sie kreischten sich die Lunge aus dem Leib, bis sie wieder die nötigen Moneten für eine Flasche Fusel oder eine Nutte oder was weiß ich zusammen hatten. Inzwischen hat die Sache ziemlich gelitten; der liebe Gott vergaß, die Miete zu bezahlen oder die nächste Flasche auszu fahren, und unter derart widrigen Arbeitsbedingungen baut man rapide ab. Gott fing an zu passen, und das Warten fällt einem schwer, wenn einem der Bauch bis in die Kniekehlen hängt, die Seele den großen Katzenjammer hat, die Lebenserwartung knapp 55 Jahre beträgt und man sich vergegenwärtigt, daß Gott sich zum letztenmal vor 2000 Jahren hat blicken lassen, und selbst da zeigte er nur ein paar billige Jahrmarktsnummern, ließ sich von einem Genossen reinlegen und machte spontan den Schirm wieder zu. Gott hat seinen Platz im Apfelbaum geräumt, die Schlange und die Möse von Eden eingepackt, und jetzt sitzt Karl Marx oben und wirft mit den goldenen Äpfeln um sich. Wenn es zum Kampf kommt — wovon ich überzeugt bin; und dem verdanken wir unsere Van Goghs und Mahlers, unsere Gillespies und Charly Parkers — dann ist, was die Anführer angeht, Vorsicht am Platz, und bei dem einen oder anderen möglicherweise die Frage erlaubt, ob er, statt die Shell-Tankstelle an der Ecke abzubrennen, nicht vielleicht doch lieber im Aufsichtsrat von General Motors säße. Und wir fragen uns vielleicht, ob auch unser Dubcek nur noch als halber Mann aus der Kälte zurückkommen wird . . .
Die Foyers der >Schönen Künste< und die Nester der >Revolutionäre< quellen über von unvorstellbaren verlausten Nieten, die ihren Kummer darüber, daß sie weder einen Job als Tellerwäscher finden noch dem Cezanne das Wasser reichen können, in Coca Cola ersäufen. Und in ihrem Innern herrscht die gleiche gähnende Leere wie in den Schokoladenhasen, die wir an Ostern unseren Kindern andrehen.
Aber, alt wie ich bin, kann ich doch noch mit Befriedigung registrieren, DASS DER KLEINE MANN JETZT DEN KANAL VOLL HAT UND NICHT LÄNGER MIT SICH SCHLITTEN FAHREN LÄSST. Man kann es überall beobachten; in Prag und in Watts, in Ungarn und Vietnam. Es ist mehr als ein Auflehnen gegen die jeweilige Regierungsform. Es ist viel elementarer: Menschen, die sich nicht länger verarschen lassen von einer Weißen Weih nacht a la Bing Crosby und von gefärbten Ostereiern, die man vor den Kindern versteckt, damit sich die Kleinen erst mal ABRACKERN müssen, um die Scheißdinger zu finden. Ein elementares Unbehagen; und mir ist wohl dabei, ich schöpfe wieder Hoffnung. Die Jungen haben endlich angefangen, sich über gewisse Dinge Gedanken zu machen und verstehen es mehr und mehr, sich mit ihren Vorstellungen durchzusetzen. Ihre Sprecher nehmen das Risiko einer exponierten Stellung auf sich und werden der Reihe nach umgelegt. Aber die verhärteten Alten merken, daß ihnen der Teppich langsam aber sicher unter den Füßen weggezogen wird. Sie müssen sich darauf gefaßt machen, daß sie sehr bald von einer Revolution abserviert werden, die sich in Form von ganz gewöhnlichen Wahlen abspielt. Vorausgesetzt, daß man ihnen überhaupt noch soviel Zeit läßt. Das ist eigentlich unser Dilemma, Jungs: entweder wir machen zu langsam und gehen dabei drauf; oder wir machen zu schnell und gehen dabei drauf . . . Naja, ich laß das mal so stehen. Langsam kriege ich Zerfalls erscheinungen, ich werde müde, ich frage mich, wozu ich mir den Mund fusselig rede, ich hoffe, daß das alles doch irgendwie einen Zusammenhang ergibt, der Kopf sackt mir auf die Maschine, ich höre auf, warte auf morgen. Vielleicht komme ich aus
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