Auge des Mondes
vernünftigen Ton heraus.
»Du willst doch nicht etwa andeuten, dass sie deine Mau in einen dieser Käfige …«, sagte sie schließlich mühsam.
Scheri nickte schweigend, mit riesengroßen schwarzen Augen.
»Da war Blut vor dem Haus«, sagte sie. »Und sie haben ihr Schälchen roh zertreten, du weißt schon, den kleinen angeschlagenen Milchnapf, aus dem sie immer am liebsten getrunken hat, seit sie zu uns gekommen ist.« Vergeblich kämpfte sie gegen die Tränen an.
»Aber wer macht denn so etwas?«, fragte Mina hilflos. »Hier bei uns in Per-Bastet, der heiligen Stadt der Katzengöttin, wo man sein Leben verwirkt hat, wenn man eine Katze tötet?«
Scheri zuckte mit den Schultern und begann hemmungslos zu weinen.
Seit Stunden hockte sie nun schon vor Chais alten Utensilien. Sie hatte alles aufbewahrt und bislang niemals die Kraft gefunden, sich von diesen Erinnerungsstücken zu trennen. Da waren seine Pinsel, geschnitten vom Stängel einer Binse, so leicht und so dünn, dass der Schreiber nur zwei Finger zum Halten brauchte. Seine schwarze und seine rote Tinte, inzwischen dermaßen eingetrocknet, dass nur eine tüchtige Zugabe von Wasser sie jemals wieder flüssig machen würde. Die Palette mit den vertieften Näpfen zum Mischen. Das Elfenbeinkästchen mit den geschnitzten Lotosblüten, ein Geschenk von Senmut, auf das Chai besonders stolz gewesen war und das als Pinselbehälter gedient hatte. Mit einem Lederriemen hatte er es über der Schulter getragen, Zeichen seines Standes und seines Ansehens.
Dazu die zahllosen Ostraka, auf die er Abrechnungen und Skizzen gekritzelt hatte, und die Schreibtafeln, aus Holz gefertigt und mit feiner Stuckschicht überzogen, mit deren Hilfe er seine Schüler unterrichtete. Vor allem aber die zahlreichen zusammengerollten Papyrusbögen, bedeckt mit den zierlichen, präzisen Schriftzeichen, die Chai so leicht und elegant aus der Binse geflossen waren wie kaum einem anderen seiner Zunft. Mina starrte die Dinge an, als könnten sie ihr eine Erklärung liefern für all das Unbegreifliche, das mit ihr und in Per-Bastet geschah, aber natürlich blieben sie stumm, verweigerten ihr jegliche Auskunft.
Noch immer sah sie das tränennasse Gesicht Scheris vor sich, die sich durch nichts hatte beruhigen lassen, weder durch gutes Zureden, auch nicht von der schönsten Geschichte, die Mina ihr fürsorglich wie heilende Medizin verabreicht hatte. Als schließlich Bata nach Hause gekommen war, übel gelaunt, weil er in der Würfelbude offenbar verloren hatte, und nicht mehr ganz nüchtern, war sie rasch aufgebrochen. Zeugin eines Ehekrachs zu werden, war das Letzte, wonach ihr heute der Sinn gestanden hatte.
Doch der Weg durch die nächtlichen Straßen der Stadt war Mina unversehens zum Alptraum geraten. Überall glaubte sie Stimmen und verdächtige Geräusche zu hören, das Knirschen von Rädern auf hartem Grund, einmal sogar nicht weit entfernt ein schrilles Jaulen und Kreischen, wie es nur Katzen in größter Not hervorbringen. Sie blieb stehen, mit klopfendem Herzen. Sollte sie hinlaufen und nachsehen?
Aber was würde geschehen, wenn sie ausgerechnet jetzt diesen Männern und ihrem Karren begegnete? Was immer sie vorhatten, offenbar bevorzugten sie den Schutz der Nacht. Auf Zuschauer und Mitwisser konnten sie daher kaum erpicht sein. Ob sie auch Menschen angriffen, die ihnen zufällig in die Quere kamen - oder noch Schlimmeres?
Sie war weitergelaufen, hatte versucht, die Ohren zu verschließen, an etwas zu denken, das sie halbwegs ablenkte. Irgendwie, sie wusste selbst nicht genau, wie, war sie dann zu Hause angelangt. Sie war zunächst erleichtert gewesen, die Tür hinter sich zumachen zu können, doch das Gefühl von Schutz und Geborgenheit, das sie sonst kannte, wenn sie in ihrem Haus war, wollte sich heute nur zögerlich einstellen.
Ihre Hände fuhren zart über die Papyrusrollen. Sie zu öffnen und zu lesen brachte sie nicht über sich. Du fehlst mir so, Chai, dachte sie. Ich hoffte schon, ich hätte das Schlimmste hinter mir. Doch da wusste ich noch nicht, dass Trauer einer Spirale gleicht: immer wenn du glaubst, du seist am höchsten Punkt angelangt und bald über dem Berg, führt dich der Weg erneut bergab, bis du am tiefsten Punkt landest.
Sie seufzte, fühlte sich beinahe so verlassen wie damals, als er gerade gestorben war.
Ich wünschte, mein Liebster, du hättest mir etwas Lebendiges hinterlassen, nicht nur ein schönes Haus, deine Schriftrollen und meine
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