Auge des Mondes
eine Schar lästiger Fliegen zu vertreiben. »Du als gebildeter, weit gereister Perser wirst dich doch sicherlich nicht von dem abscheulichen Aberglauben dieser Einheimischen beeindrucken lassen! Oder beugst du jetzt auch schon heimlich dein Knie vor tierischen Mäuse- und Aasfressern?«
»Unser Gott ist mir heilig, und ich habe niemals aufgehört, ihm zu dienen. Doch wäre es anderseits nicht ratsam zu respektieren, woran die Menschen hier glauben? Wir leben in diesem Land, ihrem Land, und wir müssen miteinander auskommen …«
»Es spricht Darius der König.« Die Worte rollten Aryandes so glatt von der Zunge wie schwere, polierte Kugeln. »Ihr alle sollt untertan sein meinem Freund und Vertrauten Aryandes, der für mich in Kemet während meiner Abwesenheit die Regierungsgeschäfte führt, das hat er gesagt. Noch Fragen?«
Numi senkte den Kopf. Jedes weitere Wort würde alles nur noch schlimmer machen.
»Keine Fragen mehr, Herr«, sagte er.
Weshalb hatte er ausgerechnet ihn herbestellt, und weshalb unter allen Umständen allein? Huy ahnte nichts Gutes, als er sich langsam der alten Nekropole näherte.
Der andere ließ ihn eine gehörige Weile warten, erst dann trat er aus dem Schatten der Gräber. Er sah müde aus und wirkte gebeugt wie unter einer schweren Last; sein Blick aber war kalt. Mitleidlos musterte er Huy, bis er gesehen hatte, was ihm offenbar wichtig schien.
»Alles in Ordnung?«, fragte er schließlich.
»Beinahe«, erwiderte Huy. »Oder besser gesagt, glücklicherweise beinahe wieder.«
»Was soll das heißen?«
»Ich war sehr krank - eine Verletzung am rechten Arm, die sie mir beigebracht haben! Die Entzündung ist inzwischen recht gut abgeheilt, die Narben aber werde ich wohl für immer behalten. Vielleicht wäre ich inzwischen sogar schon tot, hätte eine alte Heilkundige sich nicht meiner angenommen.«
»Du solltest vorsichtiger sein. Hat man dich nicht beizeiten gewarnt?«
»Sie können ungeahnte Kräfte entwickeln«, sagte Huy, »besonders, wenn man sie in die Enge treibt. Du kannst sie nicht halten, nicht einmal die kleinsten und schwächsten von ihnen. Sie drehen und winden sich wie Dämonen, um sich zu befreien. Nicht einmal den stärksten Männern gelingt das.«
Der andere griff hinter sich und warf ihm ein schweres Bündel vor die Füße.
»Was ist das?« Huy machte keinerlei Anstalten, sich danach zu bücken.
»Probier es zunächst im Schutz deines Hauses an, sobald du mit der Arbeit fertig bist! Beweg dich, geh damit auf und ab! Es soll ganz natürlich wirken, das ist das Wichtigste dabei. Ach ja, und sieh auf jeden Fall zu, dass niemand dich dabei beobachtet!«
»Was ist das?«, wiederholte Huy. »Was soll ich damit?«
»Eine persische Uniform«, versetzte der andere ungerührt. »Getragen natürlich, damit sie noch echter wirkt. Die passenden Stiefel sind auch dabei.«
»Wozu das alles? Ich meine, weshalb sollte ausgerechnet ich diese Sachen anziehen?«
»Das wirst du noch früh genug erfahren.« Die Lippen des dünnen Mannes, von dem er bisher alle Befehle erhalten hatte, wurden noch schmaler. »Wir haben Großes mit dir vor, Huy, nur so viel dazu heute. Du hast doch sicherlich einen Lebenstraum? Etwas, das du mehr als alles andere ersehnst? Der könnte sich jetzt erfüllen.«
Sofort standen Henet-Watis anmutige Züge vor Huys innerem Auge: die bräunlichen Wangen, der volle Mund, die starken, weißen Zähne. Er sah, wie sie lachte, wie sie anmutig die Arme bewegte, sodass die bunten Reifen an ihren Handgelenken klirrten, und wie sie beim Gehen die Hüften verheißungsvoll rollte, damit ihr festes kleines Hinterteil … Sein süßer Wachtraum zerstob abrupt, als der andere weiterredete.
»Sehe schon, wir haben uns verstanden.« Der Mann schien zufrieden. »Dein Wunsch kann in Erfüllung gehen, bald sogar, vorausgesetzt, du arbeitest klug mit uns zusammen. Wir werden uns erkenntlich zeigen, in mehr als einer Weise.«
»Aber wozu das Ganze?«, setzte Huy noch einmal an. »Wieso die Uniform der Perser? Was bezweckt ihr damit?«
»Was sollen all diese Fragen?« Jetzt klang der andere sanft, fast melancholisch. »Das Nachdenken kannst du ruhig uns überlassen! Bist du nun dabei, oder bist du es nicht?«
Welche Wahl blieb Huy? Er war in diese schreckliche Sache gestolpert wie in eine perfekt ausgelegte Falle und hatte sich mit jeder Nacht immer noch tiefer in sie verstrickt. Eine Weigerung würde den Tod bedeuten. Und er hatte doch gerade erst erfahren, wie süß
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