Auge des Mondes
straffte sich. »Die Stunde der Wandlung ist nicht mehr fern.«
Eine ganze Weile hatte sie ihm beim Schlafen zugesehen, bis schließlich der Schlummer sie ins Reich der Träume forttrug.
Jetzt war Numi es, der sie beobachtete, zärtlich, voller Wärme.
Ihre Stirn war hoch und leicht gewölbt; die sprechenden Augen, in denen sich sonst alle Gefühle widerspiegelten, waren geschlossen. Sie hatte dunkle Wimpern, die am schönsten wirkten, wenn sie wie jetzt ungeschminkt waren. Eine kräftige, gerade Nase, die Willenskraft verhieß. Schön geschwungene Lippen, nicht zu breit, nicht zu schmal, jetzt sanft gerötet von seinen Küssen.
Sie liebte die Liebe, das hatten ihn die vergangenen Stunden gelehrt. Und sie war viel zu lange allein gewesen, das hatte er an ihren ungestümen Umarmungen gespürt.
Er drückte seinen Mund auf ihr Haar, erhob sich leise. Angelte nach seinem Gewand, den Sandalen.
Die Katze verfolgte jede seiner Bewegungen. An ihrer Hinterpfote hing ein Hanffetzen. Ob sie ihnen auch beim Liebesakt zugesehen hatte?
Eine Überlegung, die Numi schnell wieder aus seinen Gedanken verbannte. Diese Leute hier in Kemet waren geradezu närrisch, was Katzen betraf, eine Sitte, die er als Perser nicht verstand und auch nicht verstehen musste.
Es wurde höchste Zeit, dass er in sein Haus zurückkehrte. Ein Haus voller Frauen hatte in seinen Augen viel gemeinsam mit einem summenden Bienenstock, dessen duftende Honigwaben freche Eindringlinge geradezu einluden. Nur die Anwesenheit des Hausherrn machte es sicher und geschützt.
acht
Die Last scheuerte unangenehm, je heißer es wurde, sie drückte und begann bereits zu jucken, wo Stein auf Haut rieb, aber Mina schritt dennoch eilig vorwärts. Sie hatte kostbare Zeit verloren, weil Anchor unnötig lange herumgetrödelt hatte, bis er das Relief endlich in ein festes Tuch gewickelt und es ihr anschließend umständlich auf den Rücken gebunden hatte.
»Weshalb bist du nur so stur?«, hatte er sich beschwert.
»Wärst du mein Weib, Mina, ich hätte dir diese Flausen längst ausgetrieben! Warum soll ich nicht meinen Karren nehmen und dir alles direkt bis vor Chais Grab fahren? Dann hättest du es wesentlich bequemer.«
»Ich weiß dein Angebot sehr zu schätzen. Aber ich möchte trotzdem lieber allein mit ihm sein, das wirst du doch sicherlich verstehen.«
»Chai war auch mein Freund.« Sein Brummen klang unglücklich. »Er gehört nicht nur dir allein. Wir anderen haben ebenfalls das Recht, um ihn zu trauern, vergiss das nicht!«
»Natürlich nicht! Ich werde ihm sagen, wer diese Kostbarkeit für ihn geschaffen hat, und er wird darüber glücklich sein.«
Der Bildhauer hatte sich strikt geweigert, ihre Deben anzunehmen. Jetzt tat es Mina erst recht leid, dass sie Numis goldene Münze neulich so leichtsinnig verschleudert hatte. Niemand hätte sie mehr verdient als Anchor, der ihre Ideen auf wunderbarste Weise in ewigen Stein umgesetzt hatte. Doch ihr würde bestimmt noch einfallen, wie sie sich bei ihm auf die richtige Art und Weise bedanken konnte!
Sie hatte die Sonne im Rücken, und je weiter sie nach Westen gelangte, desto voller wurde es auf den Straßen. Unübersehbar, dass die Besucherinnen schon in Scharen nach Per-Bastet strömten. Viele, die sich keine Herberge leisten konnten, kamen bei Verwandten oder Freunden unter; die ganze Stadt schien sich zu füllen, von Tag zu Tag mehr. Die unterschiedlichsten Typen und Gestalten konnte Mina bei ihrem Weg nach Westen ausmachen: die meist hochgewachsenen, eher hellhäutigen Mädchen der benachbarten Deltastädte neben Frauen, die die strengen klassischen Züge der Menschen aus der Mitte Kemets zeigten, bis hin zu den quirligen dunklen Schönheiten des tiefen Südens. In früheren Jahren hatte sie sich manchmal unter die Menge gemischt und sich einfach treiben lassen, hatte all die Hoffnungen und Ängste am eigenen Körper gespürt wie eine große, sich immer höher aufbäumende Welle, die sie schließlich mitgerissen und von allen finsteren Gedanken befreit hatte.
Heute jedoch hatte Mina anderes im Sinn.
Glücklicherweise hielten sich trotz der vorgerückten Stunde nur wenige Besucher in der Nekropole auf, die ihre Zwiesprache mit Chai hätten stören können. Vorsichtig löste sie die Knoten des Tuches, was ohne fremde Hilfe nicht ganz einfach war, und ließ die steinerne Skulptur so behutsam wie möglich zu Boden gleiten.
Im späten Morgenlicht erschien sie ihr vollkommener denn je. Anchor hatte auf ihren
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