Auge des Mondes
Wunsch hin den hellen, leicht rötlichen Sandstein verwendet, der alle Einzelheiten besonders plastisch hervortreten ließ: Die Bäume, die Blätter und Blumen, besonders aber der ovale Teich wirkten lebensnah und lebendig.
Mina räumte die verwelkten Blüten weg und stellte ihre neue Gabe auf den Grabhügel.
»Da staunst du, mein Liebster!«, sagte sie und spürte, wie ihre Kehle auf einmal eng wurde. »Und auch ich werde mit dem Bewundern kaum fertig. Ist es nicht geradezu unglaublich geworden? Ich gebe zu, es hat ein Weilchen gedauert, dafür jedoch werden diese Blüten niemals verwelken, und das Wasser des kleinen Teiches wird stets frisch und kühl bleiben. Dein Freund Anchor hat diese Kostbarkeit für dich geschaffen und sich geweigert, auch nur einen Deben dafür anzunehmen. Stell dir das nur vor!«
Ihre Stimme wurde zittrig, doch sie sprach tapfer weiter. »Es gibt Anlass zu großer Freude - Ameni ist nach all der Aufregung wieder bei uns, gesund und wohlbehalten. Der Satrap hatte ihn tagelang einsperren lassen, aber dem Jungen scheint trotzdem nichts Schlimmes zugestoßen zu sein. Seltsamerweise sieht es sogar danach aus, als hätten ihm diese Tage der zwangsweisen Besinnung ganz gut getan. Ich wette, Tama und Tep sind überglücklich, auch wenn sie es natürlich nach außen nicht zeigen. Du kennst sie ja! Ameni wohnt jetzt übrigens eine Weile bei mir; er hat es sich so sehr gewünscht. Ich denke, es geht ihm dabei auch darum, dir nah zu sein, wo sie ihm während der Zeit seiner Haft schon dein altes Binsenmesser abgenommen haben.«
Ein jüngeres Paar ging vorbei; es hatte nach einer Fieberepidemie im letzten Sommer seine beiden Kinder hier kurz nacheinander begraben müssen. Mina nickte ihnen zu und empfing ein ebenso freundliches Nicken als Antwort. Manchmal hatten sie sich vor ihren Grabhügeln miteinander unterhalten, was ihnen Trost und Erleichterung gebracht hatte; heute jedoch stand offenbar weder den beiden noch Mina der Sinn nach einem Gespräch.
»Ich hab damit begonnen, Scheris Zwillingen den allerersten Schreibunterricht zu geben«, wandte sich Mina wieder an Chai. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich in deinen alten Sachen nach passenden Vorlagen für sie stöbere? Sie waren mit solchem Feuereifer bei der Sache. Ach, wie sehr wünschte ich, ich könnte mit dir Satra und Tia aufwachsen sehen!«
Sie spürte, wie die Hitze sich im Nacken und unter den Brüsten staute. Dabei war sie noch nicht einmal beim eigentlichen Thema angelangt. Mit ihrer Besorgnis, was es mit den verschwundenen Katzen auf sich hatte, wollte sie Chai lieber nicht belasten - noch nicht. Und was Numi betraf, so erschien es ihr ratsam …
Was sollte dieses angeblich vorsichtige Getue?
Feige war sie - feige, ängstlich und sonst gar nichts! Aber Chai hatte etwas anderes verdient. Das war sie ihm und seinem Angedenken schuldig.
Minas Lippen öffneten sich, und heraus strömte jenes Gedicht, ihr Gedicht, das sie sich gegenseitig geschenkt hatten, als Zeichen ihrer Liebe. Sie rezitierte es, langsam und deutlich, von Anfang bis Ende:
» Ich bin deine erste Schwester,
ich bin für dich wie der Garten,
den ich gepflanzt habe mit Blumen
und allen süß duftenden Kräutern.
Schön ist der Kanal in ihm,
den deine Hand gegraben hat,
wenn der Nordwind kühl weht.
Der schöne Ort, wo wir uns ergehen,
wenn deine Hand auf meiner liegt,
und mein Herz wird satt von Freude,
weil wir zusammengehen.
Ein Rauschtrunk ist es, dass ich deine Stimme höre,
und ich lebe, weil ich sie höre.
Wenn immer ich dich sehe,
ist es mir besser als Essen und Trinken .
Er hat denselben Geschmack wie du, schon seltsam, nicht wahr? Von allen Versen hat er mir ausgerechnet unsere geschenkt!«
Jetzt weinte sie ungehemmt, ließ die Tränen strömen, ohne sich länger dagegen zu wehren. Sie liefen über ihre Wangen, netzten den Hals, den Ausschnitt des Kleides, bis Mina endlich den Handrücken zu Hilfe nahm, um sie wegzuwischen.
»Ich werde dich immer lieben«, sagte sie leise. »Bis zu meinem allerletzten Atemzug, das musst du wissen, mein Chai! Aber ihn könnte ich auch lieben, glaube ich, und ich bin erleichtert, dass ich es dir endlich gesagt habe.«
Der Blick des Satrapen glitt über die Edelsteine, die Numi vor ihm ausgebreitet hatte - eine exklusive Auswahl all der Kostbarkeiten, die er unter erheblichen Mühen in Kästchen und Kistchen zusammengetragen hatte, dargeboten auf einem großen, flachen Silberteller. Tiefvioletter Amethyst
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