Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
hier auf diesem Berg und hebe dieses Grab aus. Warum? Für wen? Verfluchte Knochenarbeit! Viel länger ertrage ich das nicht. Und ständig diese Stimme aus dem Nichts, dieser Befehlston: »Größer, Ameneh, das muss größer werden und tiefer, es ist noch nicht tief genug!« Ja, ich komme mir vor wie meine eigene Totengräberin … Ganz kurz Pause machen, nur einen Moment innehalten, den Schweiß von der Stirn wischen, den Rücken strecken, meine Hände kühlen, sie brennen vor Schmerz …
Oh Gott, ich stürze ab. Hinunter ins Tal. Ich habe den Boden unter den Füßen verloren. Ich falle ins Tal. Und dann liege ich da unten auf dem Boden. Nichts tut mir weh nach dem Sturz. Wie kann das sein? Ich bin so tief gefallen. Aber mein Gesicht, oh Gott! Mein Gesicht ist völlig zerschmettert! Ich bin entstellt. Wie soll ich mich je wieder unter Leute wagen? Mit dieser Fratze? Da kommt jemand. Es ist ein Soldat.
»Amir, bist du das? Wie schön, dich zu sehen! Und wie gut dir deine Uniform steht! Wohin …? Nein, geh nicht, Amir, bleib doch!« Die Erde bebt! Nichts wie weg von hier, Ameneh! Bloß nicht auf der Stelle treten, weg von hier, Ameneh, so geh doch, geh voran! Ich trete auf der Stelle. Kein Stück komme ich voran. Der Weg vor mir ist komplett versperrt. Ich drehe mich in eine andere Richtung um … Großer Gott, dieser Weg ist auch verschüttet! Kein Ausweg? Wohin jetzt? Wie weiter? Auf die Knie fallen und Gott um Beistand bitten: »Herr im Himmel, hilf du mir weg von hier, ich bitte dich, inständig, hilf mir!«
Weiter, Ameneh, geh weiter, immer weiter … Dunkel. Plötzlich ist alles stockdunkel. Wo bin ich hier? Ein Gewölbe, Säulen ringsum … im Hamam? Und ich splitternackt? Und schäme mich nicht im Geringsten? Wie ungewöhnlich. Geh einfach weiter, Ameneh. Schau, die Frau und der Junge an dem Tisch dort vorne. Sie überschüttet den Jungen mit Vorwürfen, holt kaum Luft für ihre Tirade. Warum lässt er sich das gefallen? Streitet nichts ab? Armer Kerl. Halt dich damit nicht auf, Ameneh, geh weiter, raus aus dem Hamam.
Pass auf! Was ist dieses weiße Zeug hier auf der Straße? Seidenraupen? Massenweise Seidenraupen. Wo kommen die plötzlich her? Wie soll ich jetzt weitergehen, ohne sie zu zertreten? Ganz behutsam, Ameneh, erst den linken Fuß voran, die Raupen sanft beiseiteschieben, dann …
Rotes Licht? Ist das die Straßenbeleuchtung? Warum sehe ich sie mit dem linken Auge rot statt gelb? Jetzt den rechten Fuß voran. Vorsicht! Nur keine Seidenraupe zertreten, Ameneh, schieb sie beiseite … Mit dem rechten Auge sehe ich die Straßenbeleuchtung gelb, wie sonst auch.
Seltsam, schon … aber das ist doch kein Grund zu weinen!
Ich schrak auf, berührte mein Gesicht. Es waren keine Tränen zu spüren.
Was hatte das alles nur zu bedeuten? Was hatte es mit den Seidenraupen auf sich? Warum sah ich Farben mit dem linken Auge anders als mit dem rechten? Der Fernseher lief – ich musste wohl eingeschlafen sein. Was für ein düsterer Traum! Ausgerechnet an diesem Tag. Ich wollte meinen Bruder doch zur Gebetsversammlung begleiten. Um der Offenbarung der ersten Koranverse zu gedenken, die dem Propheten Mohammed an drei Tagen im Fastenmonat herabgesandt wurden, so heißt es. Abends versammeln sich die Gläubigen und verbringen diese Nächte des Ramadan mit gemeinsamen Gebeten bis zum frühen Morgen. Was man in einer solchen Nacht träumt, wird wahr, sagen manche Leute. Gott steh mir bei! Dieser schreckliche Albtraum darf sich nie erfüllen!
Die furchterregenden Traumbilder steckten mir auch am folgenden Morgen noch in den Knochen. Für wen mochte dieses Grab sein? Wieso war mein Gesicht zerschmettert worden? Warum war ich Amir begegnet? Ob ich diesen Tag heil überstehen würde?
Ich beschloss, auf dem Weg zur Arbeit noch ein Stück durch den Ressalat-Park zu gehen. Das würde mich bestimmt auf andere Gedanken bringen, hoffte ich. Die Ruhe, das viele Grün, nur für ein paar Schritte dem rüden Verkehrschaos Teherans entfliehen – am Krankenhaus vorbei, noch zwei, drei Stufen die Treppe hinauf, und endlich war ich bei der Arbeit angekommen. Hier würde ich meine Sorgen und Ängste ausblenden können. Den Kollegen erzählte ich besser nichts von meinem wirren Traum. Gespött hätte ich an diesem Tag nicht auch noch brauchen können.
»Wo hast du denn deine gute Laune gelassen?«
Wieso fragte die Kollegin mich das? Hatte sie gemerkt, dass mich etwas bedrückte? Sollte ich ihr sagen, dass ich vermutete, der
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