Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
abnahm, um allen vor Augen zu führen, wie stark dieses Attentat mein Aussehen und mein Leben verändert hatte, traute ich meinen Ohren nicht. Ich hörte Madschid kichern. Dass er seltsam reagieren würde, darauf glaubte ich gefasst zu sein. Sein Kichern aber traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Als er kurz darauf noch sagte: »Du bist doch selbst schuld, du hättest mich ja heiraten können!«, war ich vollständig außer mir.
Fiel dieser Bestie wirklich nichts Besseres ein, als mir die Schuld für sein krankes Handeln zu geben? War das sein einziger Kommentar zu der Katastrophe, die er verursacht hatte? Im Saal entstand ein Tumult – die Presse schrieb später: »Im Gerichtssaal flogen die Fetzen. Zusammentreffen zwischen Ameneh und ihrem Attentäter endet im Streit.« Trotz der unermesslichen Wut, die ich verspürte, wurde mir in diesem Augenblick klar, welche Gnade es doch war, Teheran endlich verlassen zu können. Weit weg von diesem Ort des Schreckens würde ich vielleicht mein Augenlicht, meine Gesundheit und meine Kraft zurückgewinnen können.
Im April 2005, knapp ein halbes Jahr nach dem Attentat, flog ich von Teheran über Paris nach Barcelona. Die Vorstellung, von zu Hause wegzugehen, hatte mich nie besonders gereizt. Ich war mir immer ganz sicher gewesen, dass ich nach dem Studium weiter im Iran arbeiten und für mich selbst sorgen würde. Ich mochte meine Heimat, obwohl ich mich – wenn der Alltagsstress mal wieder besonders heftig war – durchaus mitunter fragte, ob das Leben anderswo vielleicht weniger mühsam wäre.
Einige meiner Freundinnen und Mitstudenten träumten davon, eines Tages im Ausland zu studieren und vielleicht sogar dort zu leben. Viele junge Iraner aber mochten ihr Land und wollten lieber in ihrer Heimat leben als anderswo. In der Firma sprachen wir hin und wieder darüber, etwa wenn es um unsere – guten oder schlechten – Bilanzen ging. Gute Auslandsbeziehungen waren für unser Unternehmen von großer Bedeutung, sowohl zu der Zeit, in der wir Geräte exportierten, als auch später, nachdem wir auf Import umgestiegen waren.
Laut einer Statistik des Internationalen Währungsfonds verließen jedes Jahr fast zweihunderttausend gut ausgebildete Leute den Iran. Angeblich aus keinem anderen Land der Erde wanderten so viele Akademiker ab, die sich überwiegend in Kalifornien niederließen, aber auch in Kanada, Europa, Japan. So zumindest sagte es dieser Bericht. Sahen tatsächlich so viele Iraner keine Zukunft mehr in ihrem Land? Lag es an der angespannten Wirtschaftslage? Oder an den gesellschaftlichen Konventionen? Lag es daran, dass junge Menschen, die über moderne Informationsquellen wie das Internet Zugang zu Welten hatten, die ihnen viel freier erschienen als ihre eigene? Die – ihrem Lebensgefühl nach – nicht mehr in vergangenen Jahrhunderten leben wollten? Konnte es gut gehen, ein Volk, das zu mehr als der Hälfte aus jungen Menschen bestand, auf Dauer derart eingeschnürt zu halten? Die Antwort musste jeder für sich selbst finden. Egal aber, wie sie ausfiel – es tat unserem Land weiß Gott nicht gut, dass die junge Intelligenz im Begriff war, das Land in Scharen zu verlassen.
Die wirtschaftliche Lage wurde durch diesen Exodus nicht besser. Und wenn jemand keine Arbeit hatte, keine Familie ernähren und schon gar keine gründen konnte, dann musste er sein Glück im Ausland versuchen – auch wenn es am Ende gar nicht der Drang nach Freiheit war, der ihn bewogen hatte, den Iran zu verlassen. Wegen der schlechten Wirtschaftslage sah es sogar so aus, als steckte unser Land in einer Heiratskrise. Von den sechs Millionen jungen Leuten im heiratsfähigen Alter konnte es sich überhaupt nur jeder Zehnte leisten, eine Familie zu gründen.
Ich stand ja einst selbst kurz davor, im Brautkleid ins Ausland zu reisen. Ja, das wäre ein zauberhafter Anlass gewesen! Vielleicht wären damals die kulturellen Unterschiede überwindbar gewesen. Und vielleicht hätten sich die Bedenken der Eltern schnell zerstreut. Aber es war zu spät für Spekulationen. Ich saß, statt in Tüll in Gaze gehüllt, um mein Gesicht vor Infektionen zu schützen, und war unterwegs in meine neue Zukunft. Blind und entstellt, lagen mir Hochzeitsgedanken ferner denn je. Es gab nicht mehr die geringste Aussicht auf ein »normales« Leben – mit Beruf, Ehemann und Kindern. Wenn ich bedachte, dass ich Gott noch wenige Monate zuvor um einen Hauch mehr als den »normalen« Alltag gebeten hatte! In meinem Leben
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