Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
zogen in ein katholisches Studentenwohnheim um. Allerdings auch hier mit der Auflage, nach zwei Monaten weiterzuziehen. Das Wohnheim gefiel mir sehr, zumindest am Anfang. Mit Jesus am Kreuz fühlte ich mich überraschend verbunden, sozusagen als Leidensgenossin. Und hatte er nicht sogar Blinde sehend gemacht?
In diesem Wohnheim war ich endlich wieder unter Leuten und hatte Gesellschaft aus aller Welt. Studierende aus Kuba, aus Lateinamerika, gut gelaunte, lebensfrohe Leute, die sich Zeit nahmen, sich meine Geschichte anzuhören, und auch mehr über die Lebensbedingungen im Iran erfahren wollten. Da leben ganz normale Menschen, erklärte ich, und bekam nun täglich Gelegenheit, mein Spanisch zu verbessern. Ein paar Brocken hatte ich inzwischen gelernt, weil ich, so oft es ging, mit einem Kassettenrecorder unterwegs war und Leute bat, mir einzelne Vokabeln oder auch kurze Sätze aufs Band zu sprechen. »Claro, en la República Islámica hay el chador para mujeres«, ließ ich meine Mitbewohner wissen. Aber Tschador und Kopftuch waren gar nicht das drängendste Problem. Es ging vielmehr um die Pflicht, diese Tücher zu tragen. Es gab islamische Länder, in denen Frauen auch unverschleiert aus dem Haus gehen durften. Und sicher wünschten sich vor allem die vielen jungen Leute etwas mehr Ausdrucksfreiheit, Abwechslung im Alltag oder einen freien Zugang zum Internet. Aber angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage in unserem Land waren ihnen doch die Zukunftsaussichten am wichtigsten. Einen Job finden und dann eine Familie gründen können. Wer für sich keine Zukunft sah und nicht ins Ausland konnte, der hatte nichts mehr zu verlieren.
In dem Wohnheim fiel mir auf, wie unbeschwert die Kommilitonen hier leben konnten. Sie würden nach ihrem Studium in ihre jeweiligen Heimatländer zurückkehren, mutmaßlich eine gute Arbeit finden – und sie konnten ihre Zeit auch jetzt schon genießen. Ein Geburtstag, eine bestandene Prüfung oder einfach der Spaß am Leben – hier wurde oft gefeiert, getanzt, gelacht. Tanzen, lachen, sich frei bewegen, sich mit anderen Menschen gemeinsam freuen – wie gut das tat.
Doch solche Phasen hielten für gewöhnlich nie lange an, weil ich stets kurz vor der nächsten Operation stand. Dr. Palao züchtete in regelmäßigen Abständen Haut an meinem Hals, um sie dann zu transplantieren. Die vielen Medikamente, die ich nehmen musste, machten mich fülliger und noch unansehnlicher, als ich mich ohnehin schon fühlte. Mein nach jeder Operation dick einbandagiertes Gesicht rief mir jedes Mal die Zeit des Attentats in Erinnerung. Machte ich tatsächlich Fortschritte? Oder machte ich mir am Ende nur etwas vor, fragte ich mich dann deprimiert.
Im April 2007 machte Dr. Medel den Vorschlag nachzuschauen, ob sich hinter meinem linken Auge nicht vielleicht doch noch etwas Sehkraft verbarg.
»Auf keinen Fall aber will ich falsche Hoffnungen wecken. Wir schauen, wie es aussieht, und wenn die Entdeckung nicht ganz nach Wunsch ausfällt, kümmern wir uns – wie bisher – weiter mit aller Kraft um Ihr rechtes Auge. Einverstanden?«
Natürlich war ich einverstanden. Aber ich hatte Angst. Wie wunderbar würde es sein, wenn ich mit dem vor sehr langer Zeit zugenähten linken Auge doch noch sehen könnte? Jedoch wer würde mir beistehen, wenn es hieße, dass das Auge endgültig verloren sei?
Und so kam es dann auch. Wie gerne wäre ich stark gewesen! Wie gerne hätte ich mir gesagt: Ameneh, du hattest dich doch schon fast damit abgefunden, dass dein linkes Auge verloren ist. Nimm’s dir nicht zu sehr zu Herzen. Schöpfe aus dem Kraft, was du hast, was du kannst und was du nie mehr verlieren wirst! Und doch fiel es mir wahnsinnig schwer, diesen Strohhalm davonschwimmen zu sehen. Ich musste erkennen, dass ich mich immer weiter von meinem Wunsch entfernte, wieder die Ameneh zu werden, die ich einst war: eine Frau voller Unternehmungslust und Zuversicht. Ich verkroch mich und träumte. Träumte von Onkel Asghar, dessen Weg ich hatte fortsetzen wollen. Und jetzt schien ich so kläglich zu scheitern. Er wollte mich zu sich rufen.
»Ameneh, siehst du, wie wunderschön ich es hier habe? Komm zu mir, komm!«
»Onkel Asghar, ich will aber doch leben!«
»Das kannst du hier auch, Ameneh. Schau, wie schön es hier ist. Bring deine Freundinnen mit. Bleib eine Weile bei mir. Wenn es dir nicht gefällt, dann kehrst du einfach wieder um.«
Dr. Saburi beruhigte mich am Telefon: »Ameneh, die Welt ist noch lange
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