Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
Stockbetten war kaum Platz, sich einmal um die eigene Achse zu drehen, und an das Verstauen meiner paar Habseligkeiten war überhaupt nicht zu denken! Mein Gott, wie sollte ich das hier lebendig überstehen?
Dolor, eine Zimmergenossin, hieß mich willkommen, mit rauer Stimme, ununterbrochen hustend und wie Susanna oder der Herr von der Parkbank anscheinend sehr glücklich in diesem Haus: »Viel lieber als auf der Straße«, antwortete sie, als ich sie fragte, ob sie tatsächlich gerne hier sei. Dass sie Anteil an meinem Schicksal nahm, rührte mich sehr: »Wie schrecklich, was dir passiert ist, Ameneh! Mit Gottes Hilfe wird alles gut! Wer weiß, vielleicht ja schon morgen!«
Doch durch meine erste Nacht in dieser Hölle auf Erden half mir ihre Anteilnahme auch nicht. Als ich abends endlich einzuschlafen hoffte, um diesen widerlichen Tag zu vergessen, hatte ich das Gefühl, Dolors Atem in meinem Gesicht zu spüren, so dicht standen unsere Betten nebeneinander.
Ameneh, du erstickst, wenn du hier liegen bleibst. Das hier ist pures Gift für dein Auge! Du musst raus hier! An die frische Luft! Auch wenn es dir schwerfallen wird, dich hier in dieser fremden Umgebung zu orientieren. Los, raff dich auf jetzt! Was war das? Ein Koffer auf dem Boden. Egal, weiter. Wo ist die Türklinke? Raus, Richtung Treppe, runter in die Lobby, zum Empfang. Da steht ein Sofa. Da wirst du ein paar Stunden schlafen können. Langsam, Ameneh, einen Fuß vor den anderen. Wie viele Stufen noch? Hättest du sie heute Nachmittag doch nur gezählt! Stufe für Stufe – das war wohl die Letzte. Das Sofa kann nicht mehr weit …
Mein Fuß! Mein Handgelenk! Jetzt liege ich hier! Endgültig am Boden! Wie ein lebloses Stück Fleisch. Mein Gott, wie tief soll ich noch fallen? Was willst du mir beweisen? Habt ihr mich jetzt so weit? Dass ich endlich aufhöre, zu bitten, zu fordern, zu kämpfen ... um meine Gesundheit, meine Unschuld, mein letztes bisschen Selbstachtung, mein letztes bisschen Stolz?
Schließlich fand ich das Sofa und weinte mich in den Schlaf. Am folgenden Morgen war mir klar: Wenn mir mein Leben lieb war, dürfte ich hier keine Sekunde länger bleiben! Ich packte meine paar Habseligkeiten in meinen Rucksack und ging raus auf die Straße. Am Tag zuvor hatte mir jemand erklärt, dass es bis zum Zentrum nicht weit sei. Und von dort aus konnte ich mich ohne Schwierigkeiten orientieren. Jetzt musste ich nur jemanden finden, der mir sagen konnte, mit welchem Bus ich ins Zentrum kam ...
Wenn in all den Wochen Dr. Saburi nicht gewesen wäre, der mir fast täglich Mut zusprach – ich will mir nicht ausmalen, wo ich heute ohne seinen Beistand wäre. Ich fand schließlich ein Zimmer bei Maria-Rosa, jener mürrischen und verbitterten alten Frau, die allein, mit ihrer Katze und in Erinnerung an ihren Mann und ihren Sohn, die sie beide durch einen Unfall verloren hatte, lebte. Dreihundertsechzig Euro Miete würden mir zwar schwerfallen, doch nach allem Pech, das ich bisher gehabt hatte, wollte ich endlich zur Ruhe kommen – und vor allem keine weitere »Empfehlung« des Sozialamtes mehr abwarten. So hörte ich manchmal Maria-Rosa Selbstgespräche führen und ertrug den Rauch ihrer vielen Zigaretten, der oft unter meiner Tür hindurch in mein Zimmer waberte.
Trotz der für mich nicht optimalen hygienischen Bedingungen hatte meine Wohnungsodyssee hier ihr vorläufiges Ende gefunden. Nicht zuletzt, weil es an der Zeit war, meinen Plan umzusetzen: Ich wollte meine Geschichte dokumentieren und sie auf Band sprechen, da ich die Blindenschrift noch nicht beherrschte. Ich musste diese Geschichte erzählen, weil nur ich wusste, was ich durchgemacht, wer mir geholfen und wer weggeschaut hatte. Diese für mich ganz neue Beschäftigung kostete mich sehr viel Kraft, aber das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, gab meinem Leben einen neuen Sinn. Umso mehr, als meine Geschichte nicht allein um meiner selbst willen erzählt sein wollte. Zahllose Frauen teilten mein Schicksal. Ihnen wollte ich Mut machen: Lasst euch niemals unterkriegen! Kein Mann hat das Recht, über euch zu verfügen! Allen Männern, die sich je mit dem Gedanken trugen, sich Frauen mit Säure oder anderen widerlichen Mitteln gefügig zu machen, sollte gesagt sein: Ihr verliert eure Macht, wenn ihr denkt, ihr könnt eure Probleme mit Gewalt lösen.
17. Blindwütig – Die ewige Dunkelheit
So saß ich eines Abends in meinem Zimmer, besprach eine Kassette – und spürte plötzlich eine klebrige
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