Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
ich mich bei ihr.
»Was machen Sie denn noch so spät alleine draußen?«, fragte sie mich fast vorwurfsvoll. Dass ich mein Schicksal herausforderte, wusste ich selbst. Aber was blieb mir denn anderes übrig? Mir fiel eine iranische Redewendung ein, die an Menschen gerichtet ist, die sich vom Pech verfolgt fühlen: Falls du ans Meer willst, nimm vorsichtshalber einen Eimer Wasser mit.
Es wurde Winter – Weihnachten –, und wir wohnten zum Glück noch immer in dem Studentenwohnheim. Meine Schwester Schirin war melancholisch und traurig. Ich konnte sie gut verstehen. Ich war hier, um wieder gesund zu werden. Das war meine Mission, und die half mir sehr darüber hinweg, von meiner Familie getrennt zu sein. Schirin aber war nur hier, um mir zu helfen. Einen anderen, stärkeren Grund gab es nicht. Sie fühlte sich alleine, weit weg von unserem Zuhause, und hatte eigentlich weiß Gott keine Lebensaufgabe.
Die vergleichsweise sorgenfreie Zeit im Studentenwohnheim war auch endgültig vorbei. Man habe uns nun lange genug geduldet, hieß es. Also raus aus dem Wohnheim und hinein in die nächste Übergangsbleibe: ein Hotel, in dem das Sozialamt ein Kontingent Zimmer hatte – zugig, mit Stolperfallen im zerschlissenen Bodenbelag und phasenweise von Männern bewohnt, die mir Angst machten. Der einzige Pluspunkt – ein echter Glücksfall sogar – war Maria, die in dem Hotel angestellt war und mir bald eine sehr gute Freundin wurde. Sie sah ein, dass das Hotel auf Dauer keine Lösung für mich sein konnte, und wollte mir bei der Suche nach einer passenden Unterkunft helfen.
Doch wer würde einer fast blinden Iranerin ein Zimmer oder eine Wohnung vermieten? Mir glaubte doch niemand, dass ich inzwischen ganz gut alleine zurechtkam. Außerdem war ja mit vierhundert Euro im Monat nicht sehr viel Auswahl. Ein weiterer Teufelskreis. Und so traf dann auch das Sozialamt die nächste Entscheidung. Ich musste raus aus dem Hotel und bekam eine neue Unterkunft zugewiesen.
»Wie schön grün die Umgebung ist, das sieht doch einladend aus hier!«, meinte Maria noch und wunderte sich gar nicht darüber, dass man ihr und ihrer Tochter Natalia nicht erlaubte, mich in meine neue Bleibe zu begleiten. Mir wurde unbehaglich. Wo war ich hier bloß gelandet?
Überall Menschen um mich herum, Stimmengewirr, ein Kommen und Gehen … und jede Menge Regeln, die zu beachten waren: Tagsüber nicht in den Zimmern aufhalten! Duschen nur zu bestimmten Zeiten! Essen selbst zubereiten verboten! Wo war ich hier nur? Statt einer Antwort bekam ich einen Schock. Ein einziges Mal nur in meinem ganzen Leben – an dem Tag, als ich im Ressalat-Park überfallen worden war – hatte ich mich so erniedrigt, so macht- und so wertlos gefühlt wie in dem Moment, als mich eine Frau am Empfang anwies: »Gib deine Kleider her, und zieh stattdessen die Sachen hier an.«
»Mich umziehen? Wieso das denn? Was stimmt mit meinen Kleidern nicht?«
»Wer hier neu herkommt, gibt seine Sachen ab. Die werden gewaschen und erst dann wieder verteilt.«
Mir blieb fast das Herz stehen vor Entsetzen! Ich sollte tatsächlich meine Kleider hergeben? Und dann fremder Leute Sachen tragen? Meine Identität ablegen wie Wäsche? Hätte man mir fetzenweise die Haut vom Leib gerissen, man hätte mich nicht tiefer verletzen können. Wegen der Aufenthaltssperre konnte ich mich noch nicht mal in ein Bett verkriechen, um mein Schicksal ungestört zu beweinen. Ich würde meine Tränen bis zum späten Nachmittag zurückhalten müssen. Dies hier war kein Hotel und auch kein Wohnheim – ich war in einem Obdachlosenasyl gelandet! Ich setzte mich vor dem Gebäude auf eine Bank und versuchte mich zu beruhigen. Eine Frau schien ständig vor mir auf und ab zu gehen. Irgendwann sprach ich sie an: »Sag, wohnst du auch hier?«
»Ja, ich wohne auch hier.«
»Und, gefällt es dir?«
»Ja, klar. Viel besser als auf der Straße ...«
»Como te llamas?«
»Susanna. Y tu?«
»Yo soy Ameneh.«
Susanna zog weiter. Ein Herr setzte sich zu mir auf die Bank und fing an, über die Segnungen des Glaubens zu sprechen und zu beteuern, wie dankbar er Gott sei, dass er jetzt hier wohnen konnte. Seltsam. War ich die Einzige, die sich hier unwohl fühlte, unfrei, gefangen? Meine Beklemmung wich auch nicht, als ich endlich ins Haus durfte. Denn da wartete schon der nächste Schock. Ich hatte nicht etwa ein Zimmer für mich allein, sondern musste mir die engen vier Wände mit drei anderen Frauen teilen. Zwischen zwei
Weitere Kostenlose Bücher