Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
lassen, sein Sohn komme bald auf freien Fuß … Verstehen Sie jetzt, Euer Ehren, warum ich diesen Leuten nicht begegnen möchte?«
Der Richter schwieg, während ich mich immer weiter in Rage redete: »Seine Mutter ist überall unverblümt als Mutter eines Märtyrers vorstellig geworden, um auch gewiss in den Genuss aller Vergünstigungen zu kommen, die Märtyrerfamilien zustehen. Ich darf Ihnen heute in aller Bescheidenheit sagen: Auch wir haben einen Märtyrer zu beklagen. Doch wir gehen nicht hausieren mit ihm. Neunzehn Jahre jung war er, als er fiel. Im Einsatz für die Freiheit. Und heute muss ich erkennen, dass er umsonst gestorben ist, völlig umsonst. Weil ich als Frau nicht unbehelligt durch die Straßen meiner Heimatstadt gehen kann! Weil ich mich bedroht fühle, sobald ich nur einen Fuß vor die Tür setze. Und ich bin nicht die Einzige. Wie viele Frauen, Mütter, Töchter, Schwestern müssen um ihr Leben fürchten, weil dieser junge Mann bereits Nachahmer gefunden hat? Meinem Onkel haben sie den Bauch aufgeschlitzt, das Gesicht zerschmettert. Ob er dem Tod zuvor wohl ins Augen, sehen konnte? Ich weiß es nicht. Eines aber weiß ich: Wenn er gewusst hätte, dass mir eines Tages das hier widerfahren würde, wäre er nicht freiwillig an die Front gegangen. Er wäre zu Hause geblieben, wie sein Vater es ihm geraten hatte, und er hätte mich beschützt, nach besten Kräften!«
»Wir halten uns an die Gesetze«, entgegnete Richter Gheissarieh nur kurz, aber ich bestand auf meiner Forderung: »Beim kleinsten Anzeichen dafür, dass es wieder Ärger gibt, verweisen Sie diese Leute bitte des Saales!«
»Wir laden nur ihn vor. Seine Familie nicht. Ist Ihnen das recht?«
»Ja, damit bin ich einverstanden.«
Die Verhandlung wurde für den 25. Juli 2008, 9 Uhr am Morgen, anberaumt. Ich stellte mir erneut die Frage, die mich seit dem Tag des Attentats nicht mehr losließ: Welches Urteil würde diesem Menschen gerecht? Und welcher Richterspruch würde mir gerecht? Wäre Vergeltung wirklich die gerechte Strafe? Oder sollte ich mich mit Schmerzensgeld und Gefängnis einverstanden erklären? Eineinhalb Millionen Toman – umgerechnet knapp tausend Euro – und bis zu zwölf Jahre Haft, von denen er drei schon hinter sich hatte?
Für meine Operationen hätten diese tausend Euro bei Weitem nicht gereicht. Außerdem schien seine Familie ohnehin bettelarm zu sein – so ärmlich gekleidet, wie er immer herumgelaufen war. Schließlich war er der Kerl aus der Universität, für den ich seinerzeit aus Mitleid ein paar Kleidungsstücke gesammelt hatte. Ein Akt der Nächstenliebe, den ich inzwischen bitter bereute …
Manchmal, wenn ich in Gedanken war, kam mir Madschid wie mein kleiner Bruder vor. Auch bei Mohammad ist vieles schiefgelaufen. Er wurde – wie Millionen junger Männer im Iran – zu lange verwöhnt und verhätschelt. Kleine Jungs werden in meinem Land wie kleine Götter behandelt. Da ist niemand, der diesen Paschas Grenzen aufzeigt. Niemand, der ihnen zu verstehen gibt, dass sie nicht alles haben können, was sie sich wünschen.
Madschid ist – ohne ihn in Schutz nehmen zu wollen – letztlich das Produkt einer Gesellschaft, die männliche Nachkommen über alles andere stellt. Die Ähnlichkeiten zwischen Madschid und meinem Bruder erschreckten mich, und ich fragte mich mehr als ein Mal, wie ich mich wohl verhalten hätte, wenn mein Bruder zum Täter geworden wäre.
Aber kein Mitglied von Madschids Familie hat je auch nur ein kleines Zeichen des Bedauerns erkennen lassen. Seine Mutter klagte bereits zu jener Zeit, wie sie es schaffen solle, eines Tages einen blinden Jungen zu versorgen. Das war und ist auch heute noch ihre größte Sorge. Dass ich und meine Familie ein viel grausameres Schicksal zu erleiden hatten, spielte in ihren Augen keine Rolle. Schließlich war ich ja – ihrer Meinung nach – an allem selbst schuld. Weil ich bisweilen Lippenstift verwendet hatte …
Ein Onkel des Kerls – ich war außer mir, als ich es erfuhr – hatte sogar mit Schirin verhandelt und wollte fünf Millionen Toman bieten, damit sein Neffe wieder freikäme. Also etwas mehr als dreitausend Euro für ein zerstörtes Leben. Und dann? Was, wenn der seine Strafe abgesessen hätte? Was, wenn er wieder frei wäre? Würde er seine grausame Tat zu Ende bringen und mir erneut etwas antun? Oder meiner Familie? Am Ende gar anderen Mädchen und Frauen?
Bliebe die Hinrichtung, die er sich offenkundig herbeisehnte. »Er wünscht
Weitere Kostenlose Bücher