Auge um Auge (German Edition)
als er mich erkannte, wie er versuchte, mit mir zu reden, herausfinden wollte, wo ich während der letzten vier Jahre gewesen war. Sie würde mir ein Glas Wein einschenken, hatte ich mir ausgemalt, und wir würden auf den Beginn eines großartigen neuen Jahres anstoßen.
Da aber nichts so gelaufen ist, wie ich es mir gedacht hatte, gibt es auch nichts, was ich Tante Bette erzählen könnte. Natürlich hatte ich auch keinen Hunger. Einfach vom Tisch aufzustehen wäre allerdings unhöflich gewesen, also sah ich ihr still zu, wie sie ihre Spaghetti um die Gabel wickelte und dabei in irgendeiner Kunstzeitschrift las.
Ich fühle mich innerlich leer. Hohl. Ich muss dringend mit meinen Eltern sprechen, ihre Stimmen hören. Wahrscheinlich werden sie versuchen, mich zu überreden, nach Hause zurückzukehren, und vielleicht gebe ich sogar nach.
Während der nächsten fünf Minuten gehe ich in meinem Zimmer auf und ab, halte mein Handy hoch über den Kopf und versuche, eine ausreichende Anzahl von Balken zu bekommen, um zu Hause anrufen zu können. Aber ich bekomme keinen Empfang. Als wir früher hier wohnten, gab es auf Jar Island praktisch kein Mobilfunknetz. An einigen wenigen Stellen hatte man schon mal Empfang, zum Beispiel in der Nähe des Leuchtturms oder manchmal auch auf dem Parkplatz der evangelisch-lutherischen Kirche, doch größtenteils war Jar Island damals handyfreie Zone. Vermutlich hat sich daran bis heute nichts geändert.
Unten in der Küche gibt’s ein Telefon mit Festnetzanschluss, aber ich mag nicht vor Tante Bette mit meinen Eltern sprechen. Vielleicht fange ich noch an zu weinen.
Jetzt höre ich Tante Bettes Schritte auf der Treppe und spähe aus der Tür. Sie geht in ihr Zimmer.
Ich könnte versuchen, mit ihr zu reden. Früher habe ich ihr oft irgendwelche Dinge anvertraut. Wenn sie uns im Sommer besuchte, sind wir jedes Mal in den Ort hinuntergelaufen und haben in der Hauptstraße heißen Kakao getrunken, selbst im August. Sie hat mir Dinge erzählt, die meine Eltern mit Sicherheit schockiert hätten. Zum Beispiel, dass sie einen Monat lang in Paris mit einem verheirateten Mann zusammengelebt hatte. Oder dass sie eine ganze Aktserie von sich selbst gemalt hatte. Tante Bette hat schon tausendundein Leben gelebt. Sie hätte vielleicht einen guten Rat für mich.
Sie liegt schon im Bett, die Augen geschlossen. Aber anscheinend hat sie mich gehört, denn plötzlich schlägt sie sie wieder auf. »Mary?«
Ich trete in ihr Zimmer und kauere mich neben ihr Bett. »Schläfst du schon?«
Sie schüttelt blinzelnd den Kopf. »Ich glaube nicht. Oder doch?«
Obwohl ich den Tränen nahe bin, muss ich lachen. »Stör ich?«
»Nein, nicht doch!« Sie setzt sich auf. »Alles in Ordnung mit dir?«
Ich hole tief Luft und versuche, mich zusammenzureißen. »Es ist so seltsam, wieder hier zu sein.«
»Ja. Ja ... natürlich.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch hierhergehöre, nach allem, was passiert ist.«
»Dies ist dein Zuhause«, sagt Tante Bette leise. »Wo solltest du denn sonst hingehören?«
»Nirgendwo sonst, nehme ich an.«
»Ich habe dich vermisst, Mary.« Ein mattes Lächeln geht über ihr Gesicht. »Ich bin froh, dass du da bist.«
»Ich auch«, lüge ich. Dann gehe ich zurück in mein Zimmer und krieche in mein Bett.
Es dauert ewig, bis ich einschlafe.
08 LILLIA Mom ist in ihrem Schlafzimmer und telefoniert mit Dad, Nadia und ich sehen unten fern und teilen uns einen Becher hausgemachtes Dulce-de-Leche-Eis von Scoops. Als ich Nadia gefragt habe, ob sie welches wolle, hat sie erst Nein gesagt, obwohl es ihr Lieblingseis ist. Mir war klar, dass sie dabei an Rennie dachte und an deren Warnungen bei der Cheerleader-Vorauswahl. Ich habe mich also mit der Packung auf die Couch gesetzt und vor ihren Augen das Eis von der Innenseite des Deckels abgeleckt.
»Nur ein ganz kleines bisschen«, sagte sie schließlich.
Das hatte ich vorausgesehen. Alle Frauen in unserer Familie sind Schleckermäulchen.
Der Trockner summt, und ich stelle die Show, die wir sehen, auf Pause. Dann gehe ich in den Wäscheraum, packe die saubere Wäsche in einen Korb und gehe damit zurück ins Wohnzimmer. Ich habe extra Trocknertücher benutzt, deshalb duften die Sachen so frisch. Ich drücke mein Gesicht in ein T-Shirt und atme die Wärme ein.
Als ich einen ganzen Stapel T-Shirts gefaltet habe, sehe ich Nadias Tanktop. Die Spuren von dem Erdbeer-Daiquiri hatte ich mit Fleckentferner behandelt, und sie sind
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