Auge um Auge (German Edition)
wollte sie mir sagen, ich solle herüberkommen. Ich bemühe ich, möglichst unauffällig kehrtzumachen. Die Bücher fest an mich gedrückt, schlendere ich auf die andere Seite und tue so, als würde ich die Mitteilungen der Schülervertretung lesen, die dort an der Wand hängen.
Sobald ich neben ihr stehe, lässt Lillia ihre Haare los, sodass sie nach vorn fallen und ihr Gesicht verbergen. Ein paar Strähnen hängen mit den Spitzen im Wasser. Vermutlich soll keiner sehen, dass sie mit mir redet.
»Nach der Schule am Schwimmbad, okay?«, flüstert sie so leise, dass ich die Ohren spitzen muss, um sie zu verstehen.
Ich nicke, dann gehen wir beide in entgegengesetzte Richtungen davon.
Das Schulschwimmbecken ist in einem separaten Gebäude untergebracht. Zurzeit ist es wegen Reparaturarbeiten geschlossen. Zum Winter, wenn die Schwimmsaison beginnt, soll alles fertig sein. Ein Keil hält die Tür halb offen, und ich schlüpfe hindurch.
Ich bin die Letzte. Lillia und Kat sitzen zusammen auf dem erhöhten Sitz des Bademeisters. Beide beugen sich über Kats Handy und scheinen etwas zu lesen. Lillia dreht einen Lolli im Mund, Kat fummelt an den zerrissenen Stellen ihrer Jeans herum.
»Hey«, sage ich, »was habt ihr denn da?«
Lillia springt auf, dabei fliegt ihr Faltenrock ganz leicht hoch. Sie schiebt den Lolli zur Seite, bis das weiße Stäbchen aus dem Mundwinkel ragt. »Kat hat heute ein Video gemacht von Leuten in der Cafeteria, die Alex’ Song singen.«
Jetzt springt auch Kat herunter, und ihre Stiefel hallen laut auf dem Betonboden. Sie hält mir ihr Handy hin. »Die hier haben eine Art Rap daraus gemacht. Aber ich habe auch schon andere gehört, die es als Jazznummer gesungen haben oder im Heavy-Metal-Stil.«
»Liebe Güte«, sage ich, »wer weiß, vielleicht ist Alex ja wirklich ein begnadeter Songwriter? Ich meine, wenn so viele Leute den Text nicht mehr aus dem Kopf kriegen.«
Kat macht einen Schritt rückwärts, und ihr Lachen füllt das ganze Gebäude, es hallt wider von jeder Wand, jeder Fliese. »Der Scheiß ist ansteckend, das muss ich ihm lassen.« Sie zieht eine Zigarette aus der Tasche und zündet sie sich an.
Kat sollte hier nicht rauchen, es macht mich nervös. Andererseits will ich ihr nicht sagen, dass sie die Zigarette lieber ausmachen soll. Also frage ich stattdessen: »Meint ihr, irgendwer hat uns im Verdacht, hinter der Sache zu stecken?«
Kat verdreht die Augen. »Kein Mensch verdächtigt uns. Und dich kennt doch sowieso niemand.«
Vermutlich sehe ich gekränkt aus; ich bin es auch, aber Lillia sagt schnell: »Genau, und ebendeshalb bist du unsere Geheimwaffe!«
»Stumm, aber tödlich!«, witzle ich.
»Wie ein Furz!« Kat lacht sich schlapp.
Ich lache auch und zeige ihr den Finger. Eine Premiere für mich.
Kat grinst. »Oh, guck doch bloß. Die süße kleine Mary entpuppt sich als richtiger Satansbraten.«
»Gar nicht!«, protestiere ich. Das kam lauter raus als geplant, und ich schlage mir mit der Hand vor den Mund.
»War nur Quatsch«, sagt Kat. »Aber jetzt im Ernst: Wir sind erschreckend gut.«
»Besser als gut«, korrigiert Lillia. Sie nimmt ihren Lolli aus dem Mund. Ihre Zunge ist kirschrot. »Wir sind fantastisch.«
Sie blickt auf ihr Handy und schlägt mit den Fingern leicht aufs Display. Ohne aufzusehen, sagt sie: »Ich meine, wenn wir wollten, könnten wir eigentlich auch hier aufhören.«
Kat und ich starren sie beide an.
»Was?«
Lillia steckt ihr Handy in die Handtasche. »Ich wollte nur sagen ... wir könnten aufhören, solange wir noch diesen Vorsprung haben, und uns gleich um Rennie oder Reeve kümmern.« Ihre Stimme ist etwas leiser als vorher.
»Kommt überhaupt nicht in Frage, Mensch!«, sagt Kat. »Morgen wird es erst so richtig toll. Das erste Footballspiel der Saison. Alle sind da und gucken zu. Das wird unsere beste Arbeit bisher. Ich wette, heute Nacht schlafe ich keine verdammte Sekunde. Das ist wie Weihnachten.«
Kat nimmt Lillia nicht ernst, das sehe ich. Sie grinst bloß und denkt an morgen. Aber ich sehe Lillias Blick. Etwas ist anders.
»Was hat sich verändert?«, frage ich sie.
Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Ich weiß nicht. Nichts.«
»Das Spiel ist morgen. Wir haben schon so viel Arbeit reingesteckt«, sage ich.
»Lil, jetzt mach nicht auf schlechtes Gewissen«, sagt Kat ungeduldig.
»Ich dachte, bei Alex ging es um meine Rache«, sagt Lillia und schiebt die Hände in die Taschen. »Sollte ich dann nicht sagen dürfen, wann
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