Auge um Auge - Moonbow #1 (German Edition)
und wer, aber das würde das Maß wohl überschreiten. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Sie spürte, wie Stevens mitleidiger Blick an ihr hing, und sah rasch zu Boden.
»Du bist nicht von Zuhause weggelaufen.«
War sie möglicherweise nicht. Aber was dann? Nein, sie konnte und wollte sich das nicht vorstellen. »Stimmt wohl«, brachte sie mühsam hervor.
»Jemand hat dich gegen deinen Willen mitgenommen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Du warst irgendwo gefangen?«
Sie nickte. Obwohl das ja auch nicht wirklich stimmte.
»Wo du auf Zac getroffen bist.« Steven sprang auf. Hektisch lief er auf und ab. Er riet so treffend, als hätte er die vergangenen zwei Jahre genau das vermutet. »Und du weißt nicht, wie du richtig heißt, wo du herkommst?« Ihm versagte beinahe die Stimme. »Sie experimentieren an euch. Sie forschen, um irgendetwas Verbotenes und Abartiges zu entwickeln. Diese Schweine! Sie haben dir eine Gehirnwäsche verpasst.«
Sie nickte, obwohl es längst keine Fragen mehr waren, sondern knallharte Feststellungen.
Er schluchzte durch die Hände. »Deshalb kam er nicht zurück. Ich wusste, Zac lebt. Ich wusste es. Ich spüre es immer noch. Aber ich fand ihn nicht. Ich fand meinen Jungen nicht. Und jetzt, jetzt ist er schon erwachsen. Einundzwanzig. Er braucht mich mehr denn je. View, bitte, sag mir, wo er jetzt ist. Bitte!«
View benötigte eine Weile, bis sie über die Lippen brachte, wie sie Zac kennengelernt hatte, und was ihnen widerfahren war. Schweren Herzens log sie ihn über Zacs Verschwinden an. Sie berichtete, er sei nicht mit aufs Boot gegangen und sie wüsste nicht, wo er sei, und von dem Sturm und dem Kentern kurz vor Erreichen des Ziels. Ihr Körper zitterte unkontrolliert, als sie aus der Geschichte auftauchte. »Joe hat mich aus dem Wasser gerettet und hierher gebracht. Es tut mir so leid, Steven.«
View nahm wahr, dass er sich seltsam verhielt. War Steven vor einigen Stunden bei der Nachricht beinahe zusammengebrochen, sein Sohn lebte noch, so erschien er ihr nun wesentlich zu ruhig. Zwar hörte sie seinen schweren Atem, gepaart mit dem Knacken und Knistern des Feuers und den nächtlichen Geräuschen des Waldes, aber er verbarg viel mehr als seine tiefen Gefühle für seinen Sohn. Das Schweigen dehnte sich unangenehm aus, bis View es nicht mehr aushielt, ihn in seiner seltsamen Trauer allein zu lassen. »Steven. Was denkst du? Erzähl es mir. Bitte.«
Erst nach einer gefühlten Unendlichkeit räusperte er sich. »Sag mir bitte nur noch eins, dann werde ich dich an meinen Gedanken teilhaben lassen.«
»Frag.«
»Warum haben sie dich entführt? Wegen deiner Augen?«
»Ja.« Sie ersparte es sich und ihm, von ihrer schlimmen Augenkrankheit zu erzählen. Es nahm ihr ja doch keiner ab.
»Weißt du, was ein Shannon ist?«, fragte er überraschend.
Wollte er gar nichts über Zac wissen? Glaubte er ihr etwa nicht? »Ein Name, aber das meinst du bestimmt nicht«, sagte sie skeptisch. Es fühlte sich unangenehm an, dass ein ihr fremder Mann etwas von ihr zu wissen schien, was sie selbst nicht wusste.
»Ein Shannon ist ein Inhalt. Der Informationsgehalt einer Nachricht. Bedeutet also, wie viele Informationen mit einem Shannon übermittelt werden.«
»Eine Einheit für etwas.«
»Genau. Man könnte es auch übertragenes Wissen nennen, das aber anders, als man es normalerweise kennt, übertragen wird. Normal wäre verbal durch Sprache zum Beispiel. Hierbei geht es allerdings um Energie oder Impulse, die der Mensch mit seinen Sinnen über seine Nerven empfangen kann.«
View nickte. Inzwischen hegte sie eine vage Ahnung, worauf Steven hinauswollte.
»Menschliche Haut kann eine Million Shannon empfangen. Bei Regenbogen- oder Kristallkindern sind die Sinne um ein Vielfaches sensibler. Zacs taktile Wahrnehmung ist geradezu sensationell. Seine Tiefensensibilität ist unbeschreiblich, vielleicht einzigartig. Er spürt den Flügelschlag einer Fliege und er wittert leichte Erdbeben Meilen entfernt.«
»Aber gleichzeitig darf man ihn nicht berühren«, wisperte sie, als sich endlich einige Antworten in ihrem Kopf bildeten. Deshalb war er so unglaublich abweisend mit seiner Anfassphobie.
»Ich denke nicht, dass du schon verstehst, was ich dir sagen möchte, View. Das Ganze reicht noch viel weiter.«
War ja so klar gewesen. Sie seufzte. »Erzähl endlich.«
»Zac kann Begebenheiten wahrnehmen, die im Inneren eines anderen Menschen stattfinden. Er nimmt die Energie auf
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