Auge um Auge
die Brust.
03 MARY Als ich heute Morgen aufwachte, hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Jede Menge. Dies ist der Tag, auf den ich gewartet habe.
Ich rase durch Middlebury und biege auf den Radweg ein, der am Ufer entlang verläuft, am Ortseingang von Canobie Bluffs, da, wo das Ufer felsig wird. Wo die Klippen am rauesten sind, windet der Weg sich in den Wald. Unter den Kiefern ist es schön kühl, und ich mag das leise Geräusch meiner Reifen auf dem sandigen Boden.
Tante Bette hat noch geschlafen, als ich losmusste, aber zum Glück stand mein altes gelbes Schwinn-Rad noch in der Garage, in fast perfektem Zustand. Nicht mal eingestaubt.
Ich überlege, wie es wohl sein wird. Wenn alle anderen aus dem Blickfeld verschwinden und nur noch wir beide uns gegenüberstehen.
Hallo, Reeve , könnte ich sagen, ruhig und gelassen.
Lang nicht gesehen ,könnte ich sagen. Die verschiedenen Möglichkeiten rasen schneller durch meinen Kopf, als ich in die Pedale treten kann. Darüber, was er zu mir sagen könnte, denke ich nicht einmal nach. Darauf kommt’s auch gar nicht an. Ich bekomme meinen großen Auftritt, das ist es, was ich will.
Der Weg endet auf der Rückseite des Schulgeländes. Mein Rad kommt schlitternd zum Stehen. Das Gebäude erstreckt sich gleich hinter dem Footballfeld. Ich bin überrascht, wie groß es ist.
Als kleines Mädchen bin ich einmal hier gewesen, zusammen mit Mom und Dad, um in der Festhalle eine Musicalversion von Der geheime Garten zu sehen. Damals glaubte ich vermutlich, die Halle sei die ganze Schule; jetzt begreife ich, dass sich die Festhalle in einem eigenen, von der Schule getrennten Gebäude befindet. Außerdem gibt es noch separate Gebäude für die Sporthalle und das Schwimmbecken. Es wimmelt nur so von Schülern, wie ein großer Ameisenhaufen kommt mir das Treiben vor. Die ganze Zeit denke ich, ich könnte unter den Hunderten von Gesichtern doch eins entdecken, das ich kenne, aber alle sind sie mir fremd.
Auf einem asphaltierten Weg folge ich dem Strom der Schüler auf einen großen zentralen Schulhof. Ein paar Jungs spielen Ultimate Frisbee auf dem Rasen. Es gibt mehrere Bänke, Bäume und in der Mitte des Hofs einen großen Springbrunnen, von dem feine Wasserstrahlen zum blauen Himmel aufsteigen.
Hier irgendwo muss Reeve sein.
Ich weiß es.
Ich spüre es.
Ich streiche mir übers Haar und drehe mich langsam im Kreis.
Ein Mädchen mit abgeschnittenen Jeans, schwarzem Tanktop und bauchfreiem Kapuzenpulli rast mit wehendem dunklem Haar auf ein anderes zu, eine Kleinere mit braunem, welligem Haar, und knallt mit voller Wucht gegen sie. So heftig, dass der Aufprall bis zu mir zu hören ist.
Die Kleinere wankt auf ihren High Heels und fällt beinahe in den Springbrunnen. Sie stößt einen Schrei aus, bei dem einem das Blut in den Adern gefrieren könnte. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Ich glaube, ich bin ihr vor langer Zeit mal begegnet. In der Sonntagsschule vielleicht oder in der Ferienbetreuung oder so.
Die in den Shorts sagt: » Du warst doch die Kleptomanin von uns beiden, Rennie! Ich hab in meinem ganzen Leben noch nichts geklaut!«
Rennie. Genau. So heißt die Kleinere . Sie war mit mir im Schwimmkurs, als wir in der Dritten waren.
Das andere Mädchen baut sich vor ihr auf. Ein Junge mit rötlichen Haaren versucht, sie zurückzuhalten, doch sie stößt ihn zurück. »Und wenn ich höre, dass du weiter Lügen über mich verbreitest, dann bring ich dich um!« So todernst, wie sie es sagt, läuft es mir kalt den Rücken herunter.
Überall auf dem Schulhof werden die Leute langsamer, um zu beobachten, was hier vor sich geht, so wie Möwen über den Abfällen am Strand kreisen. Ich fühle mich elend, so hilflos. Alle anderen hingegen scheinen sich prima zu amüsieren. Alle außer dem rothaarigen Jungen.
Rennie richtet sich gerade auf. »Hm – du willst mich umbringen? Echt?« Sie lacht. »Okay, keine Lügen mehr, Kat. Ich werde ehrlich zu dir sein, jetzt sofort. Erinnerst du dich noch, wie du mich angebettelt hast, wieder deine Freundin zu sein, damals in der Neunten?«
Das Lächeln im Gesicht der anderen schwindet. »Geflennt hast du, und andauernd wolltest du mich umarmen. Nur dass du’s weißt – ich hab die ganze Zeit nur gedacht, dass dein Atem nach Scheiße riecht. Immer stank er nach Scheiße, selbst wenn du dir gerade die Zähne geputzt hattest. Als du dann gegangen bist, war ich so erleichtert, dass ich nie wieder deinen Scheißatem würde riechen
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