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Augen für den Fuchs

Titel: Augen für den Fuchs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henner Kotte
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dieser Tristesse übernachten zu wollen. Flucht, eindeutig, er war auf der Flucht, wovor auch immer. Dieses Gasthaus war kein Ort prallen Lebens. Er fragte sich, ob das Restaurant überhaupt über eine Speisekarte verfügte. Es machte einen einsamen und traurigen Eindruck. Das Interieur war grob gezimmert und zu dunkel, die Regale mit Ramsch überfüllt. Fotos. Kleine Flaschen. Ein Buch. Sturmnacht im Felde. Miersch blickte auf Fußballwimpel SG Gerichshain, auf osteuropäische Trachtenpuppen und eine Wasserpfeife. Wahrscheinlich hatte die Wirtin seit der Wende nicht investiert. Zu den alten Eichen roch nach dem Charme einer vergangenen Zeit. Und offensichtlich gab es zu wenige Nostalgiker vor Ort, anders konnte Miersch sich den menschenleeren Raum nicht erklären.
    »Früher konnten wir uns vor Gästen nicht retten.« Die Alte vom Stammtisch hatte wohl seine Blicke beobachtet. »Wenn ich an die Tanzveranstaltungen denke. Combos hatten wir hier – Theo Schumann und Achim Menzel, Helga Brauer und Inka Bause.«
    Sie stimmte eine Melodie an, die Miersch nicht erkannte. Die Wirtin versuchte, Mutschs Gesang zu beenden.
    »Rosel, willste nicht schlafen?«, fragte Matze.
    Rosel wollte nicht.
    »Ich werde bald für immer die Augen zu tun. Da kann ich doch heute noch singen.« Sie stand vom Tisch auf und warf sich in Positur, als würden ihr Zehntausende zuhören.
    »Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie ja zu Haus. Ganz Paris träumt dieses Märchen, wenn es wahr wird …«
    Plötzlich verstummte die Alte, sank auf ihre Sitzbank zurück und hätte beinah den Rest ihres Bieres verschüttet, dann trank sie gierig.
    »Tut mir leid, aber ich kann sie nicht in ihrem Zimmer einschließen«, entschuldigte sich die Wirtin.
    Ihre Erklärung war unnötig. Mierschs Nachbar schien an die Alte gewöhnt, und er selbst hatte nichts gegen ihre Anwesenheit. Man konnte Pensionären nicht das Haus verbieten. Zumal man nie wusste, wie es einem selbst in diesem Alter ergehen würde. Miersch erinnerte sich an seine demente Tante Alma, die Blumen aus den Tischdecken schnitt und in Poesiealben klebte. Ein entfernter Vetter hatte sich mit einem Schnürsenkel an der Türklinke zu seinem Einundachtzigsten erhängt. Die Gäste waren erschüttert, als sie zur Feier erschienen. Die Polizei musste immer wieder in solchen Fällen ermitteln, und auch die landeten alle auf seinem Tisch. Alte verschwanden, wanderten auf den Pfaden ihrer Jugend, sprachen mit längst Verstorbenen und hatten an der Gegenwart wenig Spaß. Miersch konnte sie verstehen.
    »Passt scho«, sagte er.
    »Schenkste nach, Anne?« Matze deutete auf beide Gläser, dann wandte er sich zu Miersch: »Sie hat es nicht einfach gehabt hier.«
    »Ja.« Miersch wusste nicht, ob sein Tresennachbar über die Wirtin oder über ihre Mutter philosophierte.
    Die Mutsch am Stammtisch schätzte er auf Mitte siebzig, die Frau hinterm Tresen auf Ende dreißig. Aber er konnte sich täuschen. Margo verwendete viel Zeit und Geld, um nicht wie Ende fünfzig zu wirken. Augenscheinlich hatte sie damit auch Erfolg. Konstantin Miersch war in seiner Wohnung Männern begegnet, die hatten die dreißig kaum überschritten. Wenn überhaupt.
    »DFD und Feuerwehr und Sportverein haben hier ihre Versammlungen abgehalten. Hajo hat ja auch selbst Fußball gespielt.«
    Miersch sah auf den Wimpel SG Gerichshain. Vielleicht hatten Hajo und seine Mannschaft den Pokal im Fach daneben errungen.
    »Und heute?«
    Die Alte kämpfte mit Tränen. »Ach Gott, Kindchen, das ist hier kein Leben. Ich hätte damals dem Manfred folgen sollen. Neunzehnhundertachtundfünfzig waren die Grenzen noch offen.«
    Kurzzeitig schien Rosel über der Erinnerung eingeschlafen zu sein. Dann sprang sie auf. »Wir werden die Errungenschaften des Sozialismus auch mit der Waffe in der Hand zu verteidigen wissen!«
    »Mutsch, komm schlafen.« Die Wirtin kam hinterm Tresen hervor und griff der Alten unter den Arm. »Der Sandmann ist lange vorbei, und du störst die Gäste.«
    Miersch fühlte sich angesprochen. Der Biertrinker Matze schien zum Inventar zu gehören. »Mich stört Ihre Mutter nicht.«
    Kaum hatte er den Satz gesagt, sprang Rosel vom Stuhl und begann vor ihm, ihre Hüfte zu schwenken.
    »Ja, dann können wir tanzen. Hajo hat das sehr gut gekonnt.« Die Alte kicherte. »Rock ’n Roll. Ich hatte mir extra ein Kleid aus Westberlin mitbringen lassen. Meinst du, dass Hajo heut noch vorbeikommt?«
    »Hajo ist seit fünfundzwanzig Jahren

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