Augen für den Fuchs
doch, mein Kind, fast alles ist frei.« Der Finger der Alten fuhr über die Seiten. »Steht keiner drin, der heute hier schläft.«
Anne legte die Arme um Rosels Schulter und sprach in ihr Ohr. »Für diesen Herrn haben wir kein Zimmer! Mutsch, das ist ein Verbrecher. Du hast doch die Schlagzeilen heute Morgen gelesen.«
Rosel entzog sich der Umarmung der Tochter, die sie offensichtlich beruhigen sollte. »In der Zeitung steht vieles, und der Herr bezahlt im Voraus. Da habe ich Sie doch richtig verstanden?«
Die Alte zwinkerte Miersch zu, der nickte und legte zwei Fünfzigeuroscheine vor sie auf die Rezeption. Rosel schob sie sofort in ihren schlaffen Busen, lächelte mit einer tiefen Verbeugung und verschwand. Anne fehlten die Worte, sie drehte sich um und ging in den Krautdunst zurück.
Miersch stieg die enge Treppe nach oben. Der Gasthof war ein modernisiertes Bauernhaus, das vielleicht früher schon eine Schänke an der befahrenen Straße gewesen war. Kein Architekt würde ohne einen Anbau mehr Platz schaffen können. Der Teppich verschluckte seine Schritte. Die Wände waren mit grüner Ölfarbe gestrichen. Die Türen waren braun gebeizt. Bilder des Landlebens hingen da, und Strohblumensträuße standen auf kleinen Tischchen im Gang. Die Vergangenheit machte aus dem Gasthaus ein Museum.
Zimmer 21 war geräumiger, als Miersch angenommen hatte. Zwei kleine Fenster gaben den Blick auf einen Innenhof frei, wo neben den Abfallkübeln ein Kleingarten blühte, in dem Rosel wahrscheinlich die Früchte für ihre Marmeladen pflanzte, pflegte und erntete. Ein Ahorn rauschte. Und hinter der Scheune blickte Miersch in den Park und die Wälder.
Er legte sich aufs Bett, ein Holzgestell mit Federdecke. Hier im Zimmer war die Wand gekalkt und hellbraun gestrichen. Überm Tisch hing ein Bild mit Traktoren, die für den Sozialismus die Ernte einfuhren. Die Bauern lachten im Realismus dieser Zeit. Miersch schloss die Augen und überlegte, ob er am nächsten Morgen wohl ein Frühstück von Anne erhalten würde. Er hatte die Demenz ihrer Mutter schamlos ausgenutzt. Miersch wollte Anne und ihrer Mutter einfach nur helfen. Er hatte die Akte, er war vor Ort. Hier, weit weg von Leipzig, den Kollegen, der Presse und weit weg von Margo, konnte er in aller Ruhe recherchieren.
Nach Eingang der vorgehefteten Fernsprechmitteilung begaben sich OL Wötzel vom Erkennungsdienst, UL Kohlund, HWM Günthardt und der Unterzeichnete (Mj Queißer) an den Tatort. Dieser befindet sich in dem Haus Georg-Schumann-Straße 34. In einer zum Hotelzimmer ausgemauerten Bodenkammer dieses Gebäudes war die Tote Boestrop, Astrid Meta, geb. am 4. Oktober 1961 in Potsdam, Beruf: Textilfacharbeiterin, wohnh. in Wittstock, Ernst-Thälmann-Platz 5, ermordet worden.
Die Leiche der Boestrop lag auf dem Bett gegenüber der Tür. Sie lag auf dem Rücken, der Kopf war leicht nach rechts gedreht, der linke Arm lief fast parallel zum Körper, der rechte Arm war stark angewinkelt und die Hand lag nahe am Kopf. Das Gesicht war stark mit Blut besudelt.
Unter dem linken Auge befand sich eine halbkreisförmige, etwa 5 mm breite Schnitt- bzw. Stichverletzung. Der linke Augapfel war entfernt, wie auch der rechte. Unmittelbar über der rechten Ohrleiste, etwa 1 cm darüber, befand sich eine weitere Stichverletzung. Auf dem rechten Handrücken, in Verlängerung des Zeige- und Mittelfingers war die Haut bläulich verfärbt. In dem Schamhaar und von da aus nach dem rechten Oberschenkel zu befand sich eingetrockneter Schleim (Sperma?). Der rechte Fuß der Leiche war mit Blut beschmiert, auch das Bett und das Zudeckbett waren stark damit durchtränkt. Außerdem war das Blut durch die Matratze gedrungen und tropfte auf die Dielen. Neben dem Bett lag ein Nachthemd. Auch das war blutig, ebenso fanden sich an Wand und Fenster deutliche Blutspuren. Das ganze Pensionszimmer machte einen unordentlichen Eindruck. Verschiedene Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut umher. Die Schrankkästen waren aufgezogen und durchwühlt. Die Wirtsleute konnten nicht feststellen, ob aus dem Zimmer etwas geraubt worden war.
Die Gaststube der Pension befindet sich im Erdgeschoß. Sie besteht aus Vorsaal, Abort, Küche, Gastraum und Gesellschaftszimmer (siehe Skizze). Fenster und Türen wiesen keine Einwirkungen von Gewalt auf. In dem Garten, der sich zwischen Hinterhaus und Scheune befindet, wurden Fußspuren festgestellt, allerdings sind dort Asche- und Müllkübel aufgestellt. An der Mauer
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