Augen für den Fuchs
haben und noch weniger Geld«, sagte sie. »Ich habe die Arbeitsuchenden auf dem Gang sitzen sehen. Ich kann dir sagen … hoffentlich muss ich mich niemals so prostituieren.«
Merghentin zog die Augenbrauen zusammen, machte ein Gesicht, als ob er sie sich auf dem Strich vorstellte, lachte. Beetz gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange.
»Das ist nicht, was ich suchte.«
»Aber interessant.« Und er zitierte mit wahrer Freude weiter: »So auch im Jahre 1815. Ein Zeitgewinn bescherte der Familie Rothschild den Grundstock ihres Reichtums. Die Befreiungskriege waren gewonnen. Kuriere machten sich auf den Weg nach London, um die frohe Botschaft zu verkünden. So auch die Kuriere der Familie Rothschild. Sie erreichten London einen Tag früher als die offiziellen Kuriere. So kaufte der Baron Rothschild englische Staatsanleihen, als alle anderen noch um Sieg und Niederlage bangten. Der daraus resultierende Börsengewinn wurde der Grundstock ihres Vermögens. So funktioniert das ganze Geschäft heute von Börse bis Netz.« Merghentin sah zu ihr auf. »Pervers, oder?«
»Mhm.«
»Weißt du, dass meine Tage länger geworden sind?« Die Theatervorstellung war vorbei. »Ich kann nicht einfach mal so zu Aldi oder einer Dönerbude. Selbst von der Küche zum Wohnzimmer dauert es mindestens … ich will gar nicht rechnen. Ich bin das perfekte Beispiel für Entschleunigung. Täte auch dir gut.«
»Mhm.« Beetz wusste darauf nichts zu antworten.
Grischa Merghentin saß vor ihr im Rollstuhl. Er blickte sie mit heiterem Lächeln an und verursachte ihr ein schlechtes Gewissen. Nein, sie dachte nicht daran, ob der Straßenbahnzustieg auch behindertenfreundlich war oder die öffentliche Toilette oder der Waldweg zum Rosentalturm. Nein, ihr fielen die Widrigkeiten für Rollstuhlfahrer nicht ins Auge. Sie berührten sie nicht, niemand in ihrem engeren Freundeskreis war betroffen. Sie schaute auf Merghentin, der bereits weiterklickte. Wenn sie neben ihm stand, wurde ihr die Lage behinderter Menschen bewusst. Beetz schlug das Gewissen, sofort wollte sie helfen, sie unterstützen, sich engagieren. Sie wollte … Dass sie in Merghentins Gegenwart die moralische Keule ereilen würde, war ihr vor dem Besuch nicht klar gewesen.
»Mir geht es um eine Zeitarbeitsfirma, die Time is Money heißt und von einem Doktor Bornschein geführt wird. Dependancen in Stuttgart, Essen, Hamburg-Wilhelmsburg und noch einige mehr …« Jetzt zitierte sie. »Denkst du, dass du da was machen kannst? Ihr Internetauftritt ist nicht mehr online. Vielleicht ergibt das aber eine Spur.«
»Mhm … Guck mal: BAP hat ein Lied davon gesungen, und es gibt eine Game-Show. 60 Minuten Zocken gegen die Uhr.« Merghentin verfing sich in den Möglichkeiten des Netzes.
»Doktor Bornschein. Time is Money.« Sie stupste ihn in den Rücken. Merghentin griff nach der Visitenkarte, die sie ihm reichte. »Hier, diese Firma suche ich. Und diese Website war gestern nicht mehr zu finden. Ich denke, dahinter steckt ein großer Betrug.«
»Und warum holt ihr euch nicht einfach einen Wirtschaftsexperten ins Team?«
»Du kennst doch Miersch.«
»Eben. Aber der ist im Urlaub.«
»Und Kohlund ist in letzter Zeit im Job einfach nicht mehr ganz bei der Sache. Wie der mit Zeugen umspringt, na ja, und überhaupt … an Schmitt darf ich gar nicht denken.«
»Du willst es den alten Männern mal richtig zeigen.« Merghentin haute mit der Faust auf den Tisch. Der Bildschirm wackelte.
»Hab ich nicht nötig. Aber beeindrucken würde ich sie schon ganz gern.«
Merghentin hämmerte auf seine Tasten. »Sieh mal, es gibt sogar eine Air Grischa!«
»Die sollte ich buchen. Allein für den Weg zum Präsidium brauche ich fast eine Stunde!«
»Vielleicht würden die mit mir Werbung machen«, sagte Merghentin. »So schlecht seh ich nicht aus. Zumindest obenrum – was meinst du?« Er warf sich in Positur.
Beetz klopfte ihm auf die Schulter. »Ja, ja, du bist das geborene Model, aber bevor du zum Fotografen gehst, such nach der Firma und denk dran: Time is Money!«
Merghentin wandte sich der Tastatur zu. »Versuch ich mein Glück.«
Diese Seite kann momentan nicht angezeigt werden, las Beetz auf dem Bildschirm. »So weit war ich auch schon.«
»Dann vielleicht auf anderem Wege.«
»Ich wünsch dir Erfolg.«
Er würde ihn haben, da war sich Beetz sicher. Die Uhr der Petrikirche schlug acht. Damit schloss sie die Tür und ging gut gelaunt zur Beratung. In dem Moment klingelte ihr Handy.
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