Augenblick der Ewigkeit - Roman
dämpfte mit der linken Hand und nahm die Tempi mit der rechten wieder etwas schneller. Er spürte, wie das Orchester sich mehr und mehr auf ihn einstellte und seinen Tempoverschiebungen folgte– nachdem es dieses Stück doch erst noch mit dem anderen geprobt hatte. Ein Glücksgefühl durchrieselte ihn, wie er es zum ersten Mal empfunden hatte, als der Hofrat ihn damals aus der Kadettenanstalt befreite.
Die Orchestermusiker applaudierten, als die Schlußakkorde verklungen waren und er mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf dem Antlitz vor ihnen stand und sich dankbar verbeugte. Als er jedoch zur Eingangstür des Dirigentenzimmers blickte, war der Doktor nicht mehr da. Zunächst dachte er noch, daß er gleich wieder auf die Bühne zurückkommen müsse. Aber dann packten die Musiker ihre Instrumente ein und verließen das Podium, so daß er zum Schluß ganz allein dastand, mit dem Gefühl, vielleicht etwas falsch gemacht zu haben. Keiner, der auf ihn zugekommen war, keiner, der ein Wort der Kritik oder Anerkennung an ihn gerichtet hätte. Als wäre er Luft für sie. Verwirrt und hilfesuchend drehte er sich zum Saal. Die Probengäste verließen den Zuschauerraum. Dann wurde zu allem Überfluss auch noch das Bühnenlicht gelöscht, und es senkte sich eine so dichte Dunkelheit auf ihn nieder, daß er glaubte, blind geworden zu sein.
» Kommen Sie schon rein.« Die Stimme des Doktors kam aus dem Dirigentenzimmer. Als er zögernd eintrat, stand der Dirigent schon im Mantel mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch hinter einem abgewetzten Ohrensessel– wie überhaupt die ganze Einrichtung des Zimmers, im Gegensatz zu dem prächtigen Renaissancesaal draußen, einen ziemlich schäbigen Eindruck machte– und packte seine Noten in die Aktentasche.
» Ich habe Sie hereingebeten, um Ihnen nicht vor all diesen Leuten da draußen, sondern unter vier Augen zu sagen, was ich von Ihnen halte. Wollen Sie nicht kurz Platz nehmen?«
Karl schüttelte den Kopf. Sein Herz klopfte aus Angst vor dem, was er ihm zu sagen hatte.
» Eine Frage zuvor. Warum haben Sie eine so charakteristische Biegung wie die Modulation nach Es-Dur im neunten Takt der Einleitung zum Florestan-Thema hin so streng im Tempo genommen?«
» Weil es so in den Noten steht– und weil ich Sie und Ihre Tempoverschiebung an dieser Stelle nicht imitieren wollte, Herr Doktor.«
» Hätten Sie aber sollen, mein junger Freund! Weil nämlich diese Modulation, so wie Sie sie spielen ließen, ohne jegliche Bedeutung für das spätere musikalische Geschehen geblieben ist. Gerade bei der absoluten Musik Beethovens kommt es manchmal mehr auf die seelisch-psychologische Durchdringung der Partitur an als auf eine notengetreue Wiedergabe, auf das lebendig-organische Herauswachsen jeder melodischen, rhythmischen, harmonischen Bildung aus dem Vorhergehenden. Trotzdem, Sie sind keiner dieser seelenlosen Taktschläger. Sie sind begabt, keine Frage. Sie sind noch jung und werden Ihren Weg machen. Ich kann Ihnen nur alles Gute auf Ihrem zukünftigen Weg wünschen. Viel Glück…«
Damit war er entlassen. Was hatte er erwartet? Daß der weltberühmte Dirigent ihm um den Hals fallen, ihm auf der Stelle ein Konzert mit seinem nicht minder berühmten Orchester anbieten würde? Daß er sich seiner annähme, wie der Hofrat seinerzeit, und ihn als Mentor fördern und vermitteln würde? Was für ein Narr war er gewesen, als er ihn im Kaiserhof angesprochen hatte, nur um ihm zu beweisen, wie gut er war. Wie einfältig waren die Träume und Illusionen gewesen, die er mit dem Probedirigat verbunden hatte. Sicher hatten sich er und die Orchestermusiker über seine Naivität lustig gemacht. Und als er sich ihren Spott vorstellte, überfiel ihn wieder jenes Schamgefühl, das sein ganzes Selbstgefühl in Frage stellte, und er spürte, wie die Verehrung für den Doktor in Hass umschlug.
Dieser griff nach seinem Hut, kniff mit Daumen und zwei Fingern in das Weiche des Vorderteils und verbeugte sich, bevor er ihn aufsetzte.
» Ach ja, und eins noch. Lassen Sie das mit dem Auswendig-Dirigieren. Wenn Sie kurzsichtig sind, sollten Sie eine Brille tragen, um die Partitur zu lesen.«
» Ich bin nicht kurzsichtig…«, in seiner Stimme lagen Groll und Trotz, » …ich habe die Partitur auswendig gelernt, Herr Doktor.«
» Auswendig? Na, na, na, lassen Sie das– so ein Unsinn! Dazu haben Sie noch zuwenig Erfahrung. Inwendig sollten Sie dirigieren, mein junger Freund, inwendig!«
Beschämt trat er
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