Augenblick der Ewigkeit - Roman
auf die Strasse. Die ganze Welt, die gerade eben noch ein so großes Versprechen für ihn bereitgehalten hatte, war zur feindlichen Gegenwart geworden, in der es keinen Platz für ihn gab. Ein Sommergewitter war während seines Probedirigats draußen niedergegangen, und es regnete noch immer. Wassertropfen liefen ihm übers Gesicht. Oder waren es Tränen, die ihm aus Enttäuschung und Wut in die Augen schossen? Er rannte mit gesenktem Kopf durch die Straßen. Rücksichtslos rempelte er Passanten an, die ihm entgegenkamen, als wären sie Hindernisse, die es aus dem Weg zu schaffen galt. Blindlings überquerte er den Potsdamer Platz, ohne Rücksicht auf den Verkehr. Autos hupten, Straßenbahnen schrillten. Zeitungsjungen schrien ihm die neuesten Schlagzeilen der Mittagsausgaben entgegen, die in seinen Ohren klangen wie »mene tekel u-pharsin«, gezählt, gewogen und für zu leicht befunden. Er hatte versagt.
Am Potsdamer Bahnhof sprang er auf das Perron der Linie A und fuhr ziellos durch die Stadt: Flottwellstraße, Dennewitzstraße, Kurfürstenstraße. Die Töne der Leonoren-Ouvertüre klangen in seinen Ohren, schoben sich über- und ineinander, als liefen Klangwellen eines Erdbebens rückwärts. Wie in Trance reichte er dem Schaffner jenes Geldstück, das er zuvor dem großen Hans von Bülow hoffnungsvoll geopfert hatte, um es ihm nach dem » Durchfall« wieder abzunehmen. Während der Schaffner in seiner Ledertasche wühlte, das Wechselgeld herausfischte, den Fahrschein vom Block riß und ihn mit seiner Lochzange entwertete, entdeckte er sich selbst in der spiegelnden Fensterscheibe der Tram. Eine nasse Strähne hing ihm in die Stirn, die Wangen waren eingefallen, und sein Mund war ein dünner Strich. Die Enttäuschung war ihm so sehr ins Gesicht geschrieben, daß er es kaum noch als sein eigenes zu erkennen vermochte, und je mehr er es anstarrte, um so entsetzter war er. Ein Gefühl der Fremdheit überfiel ihn und machte es ihm immer schwerer, jenes Gesicht in der Fensterscheibe mit dem seinen in Einklang zu bringen. Am Nollendorfplatz stieg er aus, ergriff in einem panischen Anfall die Flucht, rannte die Kleiststraße hinunter über den Wittenbergplatz, an spiegelnden Schaufensterscheiben vorbei– an denen er sonst nie vorbeigehen konnte, ohne sich verstohlen darin zu bewundern– wie von einem Doppelgänger gehetzt. Eine irrationale Angst der Selbstverlorenheit hatte ihn gepackt, und er fürchtete, den Verstand zu verlieren. Alle sinnstiftenden Beziehungen zur realen Umwelt kollabierten, als stünde er unter Drogen, und die Dinge um ihn herum verloren ihre herkömmliche Bedeutung: Taxi, Restaurant oder Warenhaus waren nur mehr Begriffe ohne Substanz, mutiert zu absurder Lautmalerei, wie Worte, die jeden Sinn verlieren, wenn man sie nur lange genug vor sich hin gesagt hat.
Vergeblich versuchte er, wieder Herr seiner selbst zu werden und das Entsetzen abzuschütteln, das ihn gepackt hatte. Aber es gelang ihm nicht. Die Attacken wurden nur noch heftiger. Die Konturen alles Sichtbaren um ihn herum fingen an, sich aufzulösen, und das Leben in seiner ganzen Sinnlosigkeit ekelte ihn so an, daß er sich schließlich übergeben mußte.
Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie es dazu gekommen war, daß er sich in der Eingangshalle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wiederfand. Er kauerte auf dem Boden und starrte wie im Vorgeschmack der Hölle voller Grauen auf das Mosaik des Erzengels Michael, dem Seelenwäger des Jüngsten Tages, als aus dem Innern der Kirche Orgelspiel erklang, eine Bachsche Fuge, die mit einem Präludium eingeleitet wurde. Seit seiner Kindheit hatte er kein Gotteshaus mehr betreten. Von einem neuerlichen Schub gepackt, blickte er auf die Figuren im Fries der Ostwand, die sich zu bewegen schienen. Die Hohenzollernhoheiten schritten in einer Art feierlicher Prozession auf einen Altar zu, um einem Gotteslamm im Ostensorium eines von zwei Engeln flankierten Kreuzes zu huldigen. Als auch er der Musik folgte und auf die Haupttür zutaumelte, verwehrte ihm der alte Kaiser den Zutritt. Machtvoll wollte er sich dem Trugbild entgegenwerfen und stolperte ungebremst ins Innere der Kirche.
Magisches Licht fiel durch die bunten Rosetten des Querschiffs, und geblendet von den goldschimmernden Mosaiken an den Gewölben und Wänden des Langhauses, schrie er vor Entsetzen auf. Das Kirchenschiff warf sich auf ihn. Die auf Granitsäulen ruhenden Emporen stürzten ein. Er gab es auf, sich gegen seine
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