Augenblick der Ewigkeit - Roman
Vorbild, ihn einigermaßen über sein gegenwärtiges Unglück hinwegzutrösten. Er war ehrgeizig genug, allen Widrigkeiten zum Trotz sein Glück zwingen zu wollen, und entschlossen, sich einen Namen zu machen, der dem des Doktors ebenbürtig sein, wenn nicht gar ihn übertreffen würde. Er spürte, daß große Aufgaben auf ihn warteten. Er durfte nur den Kairos nicht verpassen, den günstigen Zeitpunkt und entscheidenden Augenblick, um die Gelegenheit beim Schopf zu packen– und der, davon war er überzeugt, war an jenem Tag gekommen.
Es war nicht das erste Mal, daß er die Philharmonie betrat, und doch klopfte sein Herz, als er das Torportal durchschritt und durch den Kolonnadenvorhof ging. Die Eingangstüren zum großen Oberlichtsaal standen offen. Ehrfürchtig trat er ein. Um die Sonneneinstrahlung abzumildern, war ein Teil des Oberlichts mit roten Leintüchern verhängt, und so stand er in einem purpurnen Lichtkegel, der sich in träger Beständigkeit veränderte, je nachdem wie der Wind die Wolken vor die Sonne schob.
Unter einem Porträtgemälde Hans von Bülows, das von einer verdeckten Lampe angestrahlt wurde, so daß es wie gewisse Altarbilder aus sich selbst heraus leuchtete, entdeckte er verwelkte Blumengebinde mit goldenen Ehrenschleifen, in Erinnerung an das fünfzigste Geburtstagsjubiläum der » Berliner« im Frühjahr, und beschloß, mit einem Stoßgebet um gutes Gelingen, ihm sein letztes Geldstück zu opfern.
Als dann die Leonoren-Ouvertüre erklang, die im Großen Saal der Philharmonie geprobt wurde, überfiel ihn trotz aller guten Vorsätze und unzähliger Kniebeugen eine solche Schüchternheit, daß er sich setzen mußte. Er schaute auf die Uhr. Die Frist betrug noch zehn Minuten. Um halb zwölf sollte er auf dem Podium erscheinen. Er versuchte, alle Kräfte zu mobilisieren, seiner Schweißausbrüche und Panikattacken Herr zu werden. Erst als er ein paar junge Männer mit Noten unter den Armen durch den Saal eilen sah, Hospitanten oder Assistenten, die, ohne ihn bemerkt zu haben, schwatzend und lachend im Großen Saal der Philharmonie verschwanden, gelang es ihm, sein Lampenfieber in den Griff zu kriegen. Er kam wieder auf die Beine, selbstbewußter als zuvor.
Man hatte das Podium zu zwei Drittel zum Zuschauerraum hin mit Stoffbahnen abgehängt, um die Akustik durch die Leere des Saals nicht zu verfälschen, so daß er, als er eintrat, zunächst nur einen kleinen Teil des Orchesters sehen konnte. Erst als er sich nach vorn getastet hatte, wo einige wenige Glückliche mit der ausdrücklichen Genehmigung des Doktors die Proben durch den Vorhangschlitz verfolgen durften, sah er ihn in einer zugeknöpften Strickjacke auf einem schlichten Holzpodest stehen. Er sprach, ohne abzuklopfen, seine halblauten Anweisungen mitten in die Musik hinein. » …ohne Rubato!…nein, ist nicht im Tempo!…ganz genau so! Immer kurz …« Seine Stimme war im Parkett gut zu verstehen. Karl staunte, daß der Dirigent, der für gewöhnlich seine Intentionen stumm auf die Musiker übertrug, mit mündlichen Anweisungen den Musikfluß formte. » Oboen, wie eine Stimme von oben!…ganz einfach, einfach, einfach, nicht zu langsam!…nein, nicht schleppen, bleiben wir im Takt!…mit mir gehen, vibrato, auch im Piano!…nicht selbständig machen und loslegen, nur weil da ff steht!«
Der Doktor dirigierte auffallend unaffektiert und sachlich. Wie er vor dem Orchester stand, mit dem abstehenden Haarkranz, der aussah, als wäre er elektrostatisch aufgeladen, erinnerte er Karl an einen schüchternen Clown mit künstlicher Glatze. Aber dann merkte er, der war nicht schüchtern, der legte Wert aufs Machthaben.
» …lassen Sie die Musik natürlich fließen, meine Herren!«
Willig folgte das Orchester seinen Schlägen. Karl staunte, mit welcher Leichtigkeit er seine Vorstellungen auf das Orchester übertrug. An manchen Stellen machte er so gut wie nichts, ließ mit minimalen Tempoverschiebungen Musik wie Musikern Zeit zu atmen. Die Effekte, die er erzielte, wenn er an ganz bestimmten Stellen anzog, um gleich darauf wieder nachzugeben, waren atemberaubend schön.
» Es geht nicht um die schöne Stelle, sondern um die Entwicklung, die Spannung zwischen den Momenten, die uns ins Herz der Musikwahrheit führen!«
Die Leonoren-Ouvertüre war fast am Ende. Eine effektvolle Coda mit langsam anschwellendem Crescendo führte die Musik zu einem letzten Höhepunkt, bis unmittelbar vor den Schlußakkorden noch einmal der Befreiungsjubel
Weitere Kostenlose Bücher