Augenblick der Ewigkeit - Roman
seine Lesebrille in die Stirn.
» Angst? Ich weiß es nicht, Fräulein Wertheimer. Vielleicht sollte ich Angst haben. Vor allem, wenn es um meine Familie geht. Aber manchmal denke ich, es ist besser zu kämpfen und kompromißlos unterzugehen, als kläglich zu verenden. Vorhin besuchte mich ein Herr Posse, unser neuer Gaukulturwart, ein Schmierenkomödiant, der auf der Bühne nur die Chargen, in der Partei aber den dicken Maxe spielt. Er forderte mich auf, aus Anlaß des Wahlsiegs am Sonntag auf der Bühne einer › feierlichen Handlung‹ beizuwohnen. Ich habe natürlich abgelehnt. Oder hätte ich vor diesen Gesinnungslumpen zu Kreuze kriechen sollen? Pah, Mittelmaß macht sich wichtig!« Zornig klappte er die Partitur zu, als wollte er diesen aufgeblasenen Popanz zerquetschen.
» Schon vor hundert Jahren hat Heinrich Heine geschrieben: › Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt. Aber kommen wird er. Und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: Der deutsche Donner hat sein Ziel erreicht.‹«
Er stand auf. Der Bürodiener brachte den aufgebügelten Frack. Es war an der Zeit, sich für die Vorstellung umzuziehen.
» Wenn die nationale Erhebung der deutschen Spießerseele erst einmal zu Ende ist, wird es keinen freien Raum mehr geben, in dem der einzelne sich selbst gehört. Ich fürchte, dann ist die Zeit des persönlichen Glücks vorbei.«
Gottwalt hatte Karl und Franziska in seine Loge eingeladen, in der auch seine Frau Lisbeth und die beiden Zwillinge erwartet wurden. Als sie die verspiegelte Intendantenstiege hinaufgingen, über die man, vom Publikum unbemerkt, zur Proszeniumsloge des GMD gelangte, konnte Franziska in den Spiegeln sehen, wie Karl ihr bewundernd nachblickte. Ich liebe ihn, wenn er mich so betrachtet, mit diesem Stolz im Blick und seinem männlichen Lächeln. Solange er an meiner Seite ist, brauche ich keine Angst zu haben.
Karl blieb plötzlich auf einem Absatz stehen und zupfte sich die Fliege zurecht. Da veränderte sich sein stolzer Gesichtsausdruck. Er sah mit einem Mal bleich und elend aus.
» Was ist mit dir?« Sie spürte, daß etwas nicht stimmte. Er seufzte nur und blickte wie verloren in sein eigenes Spiegelbild. » Glaubst du, es stimmt, was Gottwalt gerade gesagt hat?«
» Was gesagt?«
» Die Zeit des persönlichen Glücks ist dann vorbei?«
» Nicht für uns, nicht, solange wir uns lieben.«
Er schwieg und blickte sie im Spiegel an, als hätte er Angst, sie direkt anzuschauen. »Hältst du mich für fähig, einen Freund zu verraten?«
» Was meinst du damit?«
» Ach nichts, war nur so ein Gedanke.«
Mit einem entschlossenen Ruck zog er sich die Frackweste zurecht und fuhr sich mit beiden Händen übers Haar. Jetzt wurde sie doch von einem vagen Angstgefühl gepackt.
Im Orchestergraben unter der Proszeniumsloge waren die Stühle und Pulte im Halbkreis um das Dirigentenpodium aufgestellt, und ein Orchesterdiener knipste die kleinen Pultlämpchen an. Er verteilte ein neues Notenblatt, legte es den Musikern auf die aufgeschlagenen Stimmenauszüge und auf die Partitur des Dirigenten.
In den Wandelgängen schrillte die Theaterklingel, und das Publikum strömte herein. Franziska erschrak. Mit wachsendem Entsetzen mußte sie mit ansehen, wie sich ganze Reihen im Parkett, aber auch auf den Rängen mit uniformierter SA und Männern der Partei füllten. In ihrer Kompaktheit wirkten die goldfarbenen Uniformjacken der Sturmabteilungsmänner wie Katzen- oder Narrengold zwischen den schwarzen Abendgarderoben des bürgerlichen Premierenpublikums. Ihr geräuschvolles Gebaren glich dem Benehmen flegelhafter Radaubrüder, die sich lauthals über die Köpfe anderer hinweg unterhielten, aus dem Parkett heraus die Kameraden auf den Rängen mit antisemitischen Parolen begrüßten, Scherze zur Antwort hinunterriefen, um gleich darauf aus vollem Hals herauszulachen, als wären sie auf einer Parteiveranstaltung. Das Premierenpublikum verharrte schweigend und eingeschüchtert auf den Plätzen.
Als schließlich die Frau des GMD mit ihren Töchtern die Intendantenloge betrat, gellte eine Trillerpfeife, und der Lärm im Zuschauersaal verstummte. An die Stelle aufgesetzter Heiterkeit trat Grabesstille. Alle starrten stumm zu der Proszeniumsloge hin– aus Mitgefühl die einen, haßerfüllt die
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