Augenblick der Ewigkeit - Roman
…und es tut gut, in Zeiten wie diesen einen aufrechten Menschen und Kampfgenossen wie Sie neben sich zu wissen!«
Seine Hände waren warm und wogen schwer. Als Karl an diesem Abend beim Zähneputzen in den Spiegel schaute, schämte er sich wie nie in seinem Leben.
Er hatte auf Empfehlung Gottwalts am Loschwitzberg, einer vornehmen Villengegend im Stadtteil Weißer Hirsch, bei einer Frau von Seyfried das Erdgeschoß gemietet. Sie war eine stolze ältere Dame, die nach dem Tod ihres Mannes in ihrer Villa aus der Jahrhundertwende die Rolläden heruntergelassen hatte, sich in schwarze Atlasseide kleidete und infolge der Inflation im Begriff war zu verarmen. Nachdem er eingezogen war, hatte Karl die Fenster aufgerissen, im Garten das Unkraut gejätet, die Küche neu gestrichen und den Bechstein-Flügel im Salon stimmen lassen. Wenn er in freien Stunden darauf spielte, kam Frau von Seyfried wie eine scheue Katze die Treppe herunter und setzte sich zu ihm. Sie war eine Dame von Welt und nahm keinen Anstoß daran, daß Franziska, die regelmäßig an den Wochenenden zu Besuch kam, bei Karl übernachtete– nachdem er sie ihr als seine Verlobte vorgestellt hatte.
Graugänse flogen in Keilformation von Süden her durch das Elbtal, zogen in einem langgezogenen Strich über die Semperoper und die Brühler Terrassen hinweg und ließen sich mit harten Schreien auf der Vogelwiese jenseits des Flusses nieder. Das Packeis auf der Elbe war geschmolzen, und die kleinen weißen Passagierdampfer hatten ihren Pendelverkehr wiederaufgenommen. Karl stand im Morgenmantel auf der Veranda und blickte über den Garten hinunter ins Tal. Ein erster Frühlingsgeruch sprang ihn an, ein wenig wärmer und süßer als die kühle Märzluft der letzten Tage, eine Ahnung davon, daß der strenge Winter bald vorüber sei. An einer windgeschützten Stelle, neben der Garage, blühten Winterlinge, und in manchen vom Schnee befreiten Nestern standen Schneeglöckchen zwischen den hellgrünen spitzen Sprößlingen der Märzenbecher, die wie die Zinken eines Kamms aus dem Boden trieben. Der sich ankündigende Frühling hatte seinen eigenen Widerhall. Mit seinem weißen Licht war er von jeher die Jahreszeit gewesen, in der er sich vor der ungewissen Zukunft fürchtete.
Karl beugte sich über die Brüstung. Durch das Geäst der kahlen Bäume sah er, wie der Opel die Loschwitz-Brücke passierte, die Schillerstraße herauffuhr und in die Schevenstraße einbog.
Leise schlich er sich ins Zimmer, um Franziska nicht zu wecken. Ihr Gesicht war in die Armbeuge geschmiegt, und ihre Haare klebten an der Stirn. Das Bett war zerwühlt, und sie hatte sich zur Wand gedreht. In dem dunklen Zimmer schimmerte ihr nackter Rücken wie Milchglas. Sie räkelte sich, als er auf Zehenspitzen zur Tür ging. » Müssen wir denn schon gehen, Karel?«
» Wir haben noch Zeit genug. Du kannst ruhig noch ein bißchen weiterschlafen.«
Franziska war zur Premiere aus Berlin gekommen, und er hatte sie in aller Herrgottsfrühe vom Bahnhof abgeholt. Sie war in einer so verliebten Stimmung, daß ihr das Bewusstsein zu lieben und geliebt zu werden nicht genügte. Sie mußte augenblicklich Karl umarmen, zärtliche Worte von ihm hören und ihm sagen, wie sehr auch sie ihn liebte. Da er nicht vor Nachmittag in der Oper sein mußte und sein Zimmer schlecht geheizt war, verbrachten sie den Tag im Bett. In den Heizungsradiatoren gluckerte das Wasser, und wenn genügend Hitze aufgestiegen war und der Wasserdampf in den Krümmern verpuffte, war dies jedesmal der Startschuß für den Austausch neuer Zärtlichkeiten. In den Pausen ihrer Liebesrunden hatte er versucht, ihr zu erzählen, was in Leipzig geschehen war. Doch als er spürte, wie panisch sie auf alles reagierte, was mit den Nazis zu tun hatte, ließ er es sein.
» Du hättest in Wien bleiben sollen, Fränzchen. In diesem Land schmeißt man jetzt Scheiben ein, Menschen werden wegen ihrer Abstammung verfolgt. Alles ist aus den Fugen.«
» Meinst du, ich bin blind? Warum, glaubst du, mußte das Bauhaus bei Nacht und Nebel nach Berlin übersiedeln, als die Nazis in Dessau anfingen gegen das › Jüdische Flachdach‹ zu hetzen?«
Franziskas Angst vor den neuen Machthabern war Bestätigung genug für ihn, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Nach dem Wahlerfolg der Hitler-Partei am Sonntag herrschten Revolution und Parteidiktatur. Die demokratischen Gegenkräfte waren wie vom Erdboden verschwunden, und jedermann zitterte um seine
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