Augenblick der Ewigkeit - Roman
Übermacht bewußt. Gottwalt ließ sich Zeit, begrüßte den Konzertmeister mit Handschlag, stieg gemessen die zwei Stufen zum Dirigentenpodium hinauf, drehte sich um und blickte provozierend lange in den Saal. Sein roter Lockenkopf lag wie ein abgeschlagenes Haupt auf der Orchesterbrüstung. Er schaute kurz zur Proszeniumsloge hinauf, nickte Lisbeth und den Kindern zu. Mit dem Rücken zum Publikum deutete er auf das vor ihm liegende Notenblatt. » Was soll denn das! Wir sind hier nicht auf einer Parteiversammlung.« Seine Stimme war laut genug, daß man ihn im ganzen Saal gut verstehen konnte. » Das ist eine Opernpremiere. Also bitte, meine Herrn…«
Er hob das Notenblatt mit spitzen Fingern hoch und ließ es sichtbar neben sich zu Boden segeln. Ein Raunen ging durchs Publikum. Dann wartete er, bis auch die Musiker das Blatt beiseitegelegt hatten, und hob den Taktstock. Langsam verlöschte das Licht im Zuschauerraum, und Gottwalt gab den Einsatz zur Freischütz -Ouvertüre.
In diesem Augenblick brach auf den Rängen und im Parkett ein unvorstellbares Pfeifkonzert los. Parteigenossen sprangen auf und intonierten die Nazihymne. Einige wenige Zuschauer in Zivil überwanden ihre Angst und zollten dem couragierten Dirigenten Beifall. Von den Rängen waren Rufe zu hören. » Hoch Gottwalt!« Gebrüll war die Antwort. » Nieder mit dem Verräter!« Der Saal erbebte vom Geschrei der Nazis, die versuchten, Gottwalt-Anhänger über die Brüstung zu stürzen. Programmzettel flogen durch die Luft. Franziska, die den Tumult von der Proszeniumsloge aus verfolgte, hörte einen SA-Mann bellen, laut und rüde, und sah, wie er von seinem Sitz aufsprang, über die Reihen kletterte, vor bis zum Orchestergraben. Als er sich über die Brüstung beugte, um auf Gottwalt einzuschlagen, benutzte eine Dame ihr mit Puderdose und Opernglas gefülltes Ridikül als Schleuder und versetzte ihm damit einige kräftige Hiebe. Der handfeste Krawall in den engen Reihen des Parketts und auf den schmalen Rängen drohte sich zu einer Saalschlacht auszuweiten.
» Los, machen Sie schon…«, Franziska hörte, wie der Agent Karl ins Ohr zischte, » …oder wollen Sie warten, bis man alles kurz und klein geschlagen hat?«
Karl hatte seine Arme auf die Brüstung gestützt und blickte verzweifelt in den Orchestergraben. » Warum geht er denn nicht endlich von allein?«
Der GMD hatte sich während des ganzen Tumults keinen Augenblick zum Publikum gedreht. Unbewegt ließ er den Proteststurm über sich ergehen. Er stand mit breitem Rücken zum Saal, wie um seine Musiker, die verschüchtert hinter ihren Pulten saßen, zu schützen, ein unverrückbarer Monolith, die Arme ausgebreitet, die Handflächen nach unten, den Taktstock, dessen Spitze nur leise zitterte, in der Rechten, bereit, den Einsatz zu geben, sowie das Publikum sich beruhigt hatte. Seine kampfbereite Haltung drückte nur eine Botschaft aus: » So leicht könnt ihr mich nicht vertreiben!«
Die Zwillinge waren in Tränen ausgebrochen, und Lisbeth schaute hilfesuchend zu Karl hinüber. » So tun Sie doch endlich etwas, Karl. Warum hilft ihm denn keiner?«
Das Licht im Saal war wieder angegangen, und der Reichskommissar hatte sich von seinem Platz erhoben. Langsam kehrte Ruhe ein. Mit einer angedeuteten Verbeugung wandte sich der Ministerpräsident der Proszeniumsloge zu und machte eine einladende Geste.
» Das ist Ihre Stunde, Herzog. Gehen Sie…«, Krausnik zupfte Karl am Ärmel, » …nun machen Sie schon…« Nach kurzem Zögern folgte Karl der Aufforderung seines Agenten.
Spätestens jetzt wußte jeder, es war ein abgekartetes Spiel. Franziska schlug die Hände vors Gesicht. » Nein! Karel, tu’s nicht!«
Sie rannte ihm nach, die Treppe hinunter, holte ihn ein, bevor er den Orchestergraben betreten konnte. Sie klammerte sich an ihn. » Geh da nicht hinein, Karel. Komm mit mir! Laß uns gemeinsam von hier weggehen, bevor es zu spät ist.«
» Sei nicht kindisch, Franziska. Wohin denn? Ins Ausland etwa? Emigrieren?«
Er versuchte, sich von ihr loszumachen. Doch Franziska klammerte sich nur noch fester an ihn. » Warum nicht emigrieren? Viele haben schon das Land verlassen oder stehen kurz davor. Fritz Busch, Otto Klemperer, Bruno Walter…«
Karl nickte dazu nur sarkastisch. » Ja, ja, ich weiß…« Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. » …die in der Musikwelt Klang und Namen haben. Meinst du, da draußen wartet auch nur einer auf einen wie mich? Nein, Franziska, hier wird das
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