Augenblick der Ewigkeit - Roman
erreichen. Er war eingekeilt in ein Menschendreieck, das durch den Druck immer neuer Schutzsuchender nur langsam vorwärtskam. Die Menschentraube steckte wie ein Pfropfen im Flaschenhals des Eingangs, bis ein paar beherzte Männer eingriffen und die Nachdrängenden zurückrissen, so daß er sich in den Bahnhof quetschen konnte.
Auf den zerbombten Gleisen lagen umgestürzte Lokomotiven unter Dampf. Die Fern- und Nahverkehrszüge waren von den Fahrgästen fluchtartig verlassen worden, die Waggontüren aufgerissen, Gepäckstücke lagen auf den Bahnsteigen verstreut. Manche hatten unter den Eisenbahnwagen Schutz gesucht. Andere kauerten geduckt auf dem Perron, während die Glassplitter aus dem Stahlgerippe des Tonnengewölbes wie glitzerndes Konfetti auf sie herunterregneten.
Viele waren in der Bahnhofshalle von den Angriffen überrascht worden und hatten in den Unterführungen provisorischen Schutz gesucht. Auf dem Weg zum Excelsior-Tunnel lagen tote Passagiere, die an Kohlenmonoxid erstickt waren– ein tödliches Gas, das sich in umgestürzten Kohletendern gebildet hatte und weder zu sehen noch zu riechen war. Sie hielten sich umarmt, als würden sie unendlich lange voneinander Abschied nehmen.
Draußen auf dem Askanischen Platz sorgten Zeitzünder dafür, daß die Vierzentnerminen in regelmäßigen Abständen hochgingen, so daß die Menschen ihre Keller nicht verlassen konnten, um die Brände zu löschen. Ihre gewaltigen Explosionen ließen den Excelsior-Tunnel erbeben, in dessen Schutz er das Hotel zu erreichen suchte. Die Zeit war stehengeblieben, während der Boden unter seinen Füßen sich bewegte und das Licht erlosch. Fremde Menschen krallten sich aneinander. Sie schrien, fingen an zu beten oder heulten. Im Dunkeln glänzte ihre weiße Augenhaut, wie bei Pferden, die in Panik geraten waren.
Eine Sprengbombe explodierte direkt über ihm und riß in den Askanischen Platz einen gewaltigen Trichter. Die Druckwelle schleuderte ihn mit dem Rücken an die Wand. Er spürte, wie sie nachgab. Ein Stützpfeiler drohte wegzuknicken. Die Decke schwebte, nur noch von einem Stahlträger gehalten, über ihm. Instinktiv zog er den Kopf ein, hob die Hände in die Höhe, als könnte er, einem Atlanten gleich, sie abstützen oder ihren Einsturz aufhalten. In einer hysterischen Angstattacke, verschüttet und zerquetscht zu werden, konnte er sich nicht mehr beherrschen: Seine Knie zitterten, seine Glieder zuckten, der Körper schlotterte, die Zähne schlugen aufeinander. Er preßte das Kinn an die Brust und wartete darauf, unter der tödlichen Last begraben zu werden.
Die kostbaren Glasfenster zum Askanischen Platz hin waren mit Brettern vernagelt, und zwischen Drehtür und Entree hatte man einen provisorischen Windfang aus Sandsäcken aufgeschichtet. Die Halle und die in der Höhe des Entresols umlaufende Galerie, in der sonst um diese Tageszeit die Hotelgäste beim High Tea saßen oder sich mit koffertragenden Hausdienern, flinken Pagen und geschäftigen Portiers in einem Hin und Her von Départs und Ankünften drängten, war menschenleer bis auf die Löschmannschaft, die mit Feuerlöschern, Branddecken und Kübelspritzen Wache hielt.
Die Männer machten große Augen, als sie Gudrun im trüben Licht der Notbeleuchtung die Stufen der Hoteltreppe herunterkommen sahen. Ihr taubenblaues Kleid war bis zum Nacken hochgeknöpft, und eine Perlenkette schmückte ihr tadelloses Dekolleté. In der linken Hand zog sie lässig eine Rotfuchsstola wie ein Hündchen hinter sich her, während sie mit der Rechten ihr nackenlanges Haarnetz stützte. Chefconcierge Zanetti schoß hinter der Verschanzung seiner Rezeption hervor, im goldbetreßten Frack und mit einem Luftschutzhelm auf dem Kopf. » Gnädige Frau, sollten Sie nicht schon längst im Luftschutzbunker sein! Mon dieu, so kommen Sie, kommen Sie doch. Die anderen Gäste sind schon alle unten. Maestro Herzog hat mich ausdrücklich darum gebeten…«
Sie unterbrach ihn, ohne stehenzubleiben. » Ich weiß, Zanetti, aber ich habe keine Lust, den Abend in einem Luftschutzbunker zu verbringen.«
Nicht daß sie keine Angst vor Bomben hätte. Aber sie glaubte, etwas Besseres verdient zu haben, als mit einem Haufen wildfremder Menschen in einem Luftschutzkeller elend wie in einem Rattennest zu krepieren. Zudem machte sie es wütend, ohnmächtig im Keller zu sitzen und darauf zu warten, von einer Bombe getroffen zu werden. Vor allem aber haßte sie das erbärmliche Gefühl, dabei so klein und
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