Augenblick der Ewigkeit - Roman
Himmel spiegelte. Von Pferden gezogen, glitt ein Floß an ihm vorüber, und ein Mann mit einer rote Dienstmannmütze streckte die Hand nach ihm aus. » Kommen Sie! Hier, nehmen Sie meine Hand.«
Er wunderte sich, wie groß und warm die Hand des Mannes war, die er ergriffen hatte. Mit seiner kolossalen Kraft zog ihn der Dienstmann wie ein Gepäckstück aus dem Trümmerhaufen an die frische Luft.
» Den Rest erzähl ich dir im Luftschutzkeller– komm.«
Sie preßte sich noch enger an ihn und schüttelte den Kopf. » Nein– laß uns lieber nach oben gehen.«
» Entwarnung ist noch nicht gewesen, und solange die Fliegerangriffe dauern…«
» …was geht es uns an, wenn die Bomben fallen.«
Das Schauspiel, das sich ihnen von hier oben bot, war ebenso schön wie grauenerregend. Von ihrem Fenster aus sahen sie Lichtkaskaden von » Christbäumen« an Fallschirmen vom Himmel schweben, die den Tiergarten und das Regierungsviertel für den nachfolgenden Bomberstrom taghell erleuchteten. Die Strahlen der Flakscheinwerfer tasteten durch die Nacht und verschmolzen zu einem Brennpunkt, in dem sie ein halbes Dutzend Bomber, die aussahen wie Silbermotten, gefangen hielten, die mit unerträglicher Langsamkeit über die Stadt hinwegflogen. Dort, wo die Bomben fielen, erblühten Feuerbälle zu prachtvoll mystischen Rosen. Sie liebten sich, während draußen eine Weltstadt unterging, und waren unersättlich in ihrer Lebensgier, die ihnen die Gegenwart des Todes verlieh. Ihre Umarmung wurde zur Herausforderung an das Spektakel der krepierenden Bomben und dem Tamtam der schweren Abwehrgeschütze auf den Hochbunkern am Bahnhof Zoo, die auf die Silbermotten zielten und den Himmel mit der Pracht ihrer Leuchtspurmunition schmückten. So ohrenbetäubend war das Dröhnen der Maschinen, die Explosionen der Minen, das Krachen der Geschütze und das Poltern einstürzender Gebäude, daß sie nicht einmal merkten, wie sie selber schrien. Doch der Lärm des Krieges konnte die Intimität, in die sie sich gerettet hatten, nicht stören. Es war für sie bedeutungslos, in dieser Nacht zu sterben. Liebe und Tod gingen Hand in Hand.
Als sie erwachten, dämmerte es bereits. Draußen fiel Schnee. Karl öffnete das Fenster. Es roch nach Brand, und die Stille, die über den Trümmern lag, war voller Unheil und Ungewißheit. Die Drehtür in der Halle rotierte ohne Unterlaß, kaum einer sprach ein Wort. Die Menschen auf den Straßen kauerten mit müden Gesichtern zwischen den geretteten Habseligkeiten auf ihren Koffern. Manche schliefen im Stehen, andere lehnten an einer Mauer, erstarrt in stumpfer Trostlosigkeit, und blickten teilnahmslos auf die Überreste ihrer Häuser, aus deren Keller noch die Flammen schlugen.
Ihre Schritte knirschten im frisch gefallenen Schnee, als sie in die Bernburger Straße einbogen. Dunkle, umrißlose Gestalten tauchten hinter Rauchschleiern, die zwischen den zerstörten Häusern waberten, auf und versuchten, mit vorsichtig ausgestreckten Armen, den Weg zu finden. Es war ein Gang wie auf dem Meeresboden, übersät mit Wracks und leblos treibenden Körpern.
Das Torportal zur Philharmonie war unversehrt geblieben. Aus den Eingangstüren kam ihnen der Geruch von verschmortem Fleisch entgegen. Der große Konzertsaal war völlig ausgebrannt. An den Wänden glimmten noch die Reste der klassizistischen Stukkatur. Der fußballfeldgroße offene Raum glich wieder jenem Innenhof, der er einmal vor langer Zeit gewesen war. In den Hitzeschwaden, die aus ihm aufstiegen, schmolzen die Schneeflocken zu Regen, bevor sie die exotische Skulptur eines Pferdekadavers bedecken konnten, der mit staksig in die Luft gestreckten Beinen auf dem Rost glühender Stahlträger schmorte, die wie ein gigantisches Mikadospiel von der Decke gefallen waren.
Im Augenblick, als ihm bewußt wurde, nie mehr in diesem Tempel klassischer Musik auftreten zu können, entdeckte er ihn. Die Bühne war mitsamt ihren Notenständern, Stühlen und dem Dirigentenpodest ein Raub der Flammen geworden, und so stand der große Dirigent nunmehr in Podiumshöhe einige Meter über dem Saal, im Dunkel einer Maueröffnung, durch die zuvor die Tür vom Konzertpodium zum Dirigentenzimmer geführt hatte, und schaute, fassungslos über das Ausmaß der Zerstörung, hinunter in seine Philharmonie, in der er ein Erwachsenenleben lang seine größten Triumphe gefeiert hatte. Er und seine Philharmoniker waren heimatlos geworden.
Wie er Wilhelm Furtwängler da so stehen sah, allein, mit
Weitere Kostenlose Bücher