Augenblick der Ewigkeit - Roman
dem Ausdruck tiefen Kummers, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen über den Wahnsinn des Kriegs, schämte er sich der kindischen Rivalität seinem ehemaligen Idol und Vorbild gegenüber. Zugleich aber durchzuckte ihn der Gedanke, zwanzig Jahre jünger zu sein als dieser, der dort oben buchstäblich vor den Trümmern seines Lebens stand, während seine Zukunft noch vor ihm lag.
Saint-Tropez – Freitagnacht
W ie bedenkenlos hatte er diesen scheinbar so grenzenlosen Kredit verspielt! Nicht daß er seine Tage vergeudet hätte, aber die Zeitspanne, die ihm zugedacht war, war viel zu kurz bemessen für einen wie ihn, der doch der Welt so viel zu sagen hatte! Mit einem Schlingern im Magen dachte er daran, wie unwiederbringlich seine Lebenszeit verflogen war, daß er nie wieder so glücklich sein würde, wie er es als kleiner Junge gewesen war, als er an der Hand der Mutter ging oder mit dem Vater auf den Bauernhochzeiten spielte, ja daß das Glück, das er in späteren Jahren gefunden hatte, eigentlich nur ein Ersatz für jenes ursprüngliche Sonntagskindgefühl gewesen war, wonach er sich sein Leben lang sehnte.
Wenn er als Kind die große Uhr betrachtet hatte, die hinter der Verkaufstheke in einer Ecke des Ladens stand, und seine Augen dem Perpendikel folgten, wie es beständig hin- und herschwang, hatte er geglaubt, sein Leben sei eine ununterbrochene Reihe nie vergehender Augenblicke, die mit dem minutenweisen Vorrücken des großen Zeigers vom lieben Gott fortlaufend neu erschaffen wurden. So langsam, wie der Zeiger sich auf dem Ziffernblatt dabei bewegte, konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, jemals erwachsen oder etwa alt zu werden. Doch jetzt, gegen Ende seines Lebens, war jedwede Zukunft aufgebraucht, und alles, was zwischen damals und heute geschehen war, war zur Vergangenheit geronnen, die nur noch in seiner Erinnerung lebte.
Wie ein kalter Luftschwall durchflutete ihn die Sorge. Er stand vor einer Wand am Ende seines Wegs. Was ihm noch blieb, war, sich niederzulegen und das, was geschehen mußte, geschehen zu lassen. Er versuchte, an sein Videoprojekt zu denken, das ihn durch jene Wand in die Unsterblichkeit begleiten sollte. Die Japaner hatten versprochen, in wenigen Jahren werde die Technik soweit sein, aus den Videobändern Hologramme zu erstellen, mit denen er für alle Zeiten die größten Orchester der Welt dirigieren könne. Nein, noch würde er nicht aufgeben und den Rest seiner Tage so dahinleben.
Er starrte an die Zimmerdecke und lauschte angestrengt, ob es außer seinem Atmen im Haus noch andere Geräusche menschlichen Lebens gab. Madame Hue übernachtete im Souterrain, Lisa hatte darauf bestanden, nebenan in Marias großem Bett zu schlafen, die durch Cosmo hatte ausrichten lassen, daß sie erst spät in der Nacht nach Hause kommen werde. Er sehnte sich nach ihr und wartete darauf, das metallische Quietschen der Toreinfahrt zu hören und das Knirschen der Reifen, wenn ihr Wagen die Auffahrt herunterkam. Doch alles, was er wahrnehmen konnte, war das Grunzen und Schmatzen einer Rotte von Wildsauen, die in Roberts Beeten wühlten.
Dazu das Schrillen von Myriaden von Zikaden, die, zu einem gigantischen Orchester vereint, immerzu ein dreigestrichenes Cis geigten, als hätte sie der Teufel in den Klauen. Sämtliche Orchestergeiger schienen draußen versammelt, die er jemals verwünscht hatte, weil sie ihren Einsatz verpatzt hatten. Jetzt mußten sie üben, üben, üben in einem entnervenden Wettstreit mit dem Tinnitus in seinem Ohr. Gegen das Ohrenpfeifen schaltete er das Radio ein. Irgendein Nachtstudio brachte das heitere und selbstverliebte Rondo einer Klaviersonate seines Ordensbruders Wolfgang Amadeus, der viel zu jung gestorben war und bis zum letzten Atemzug die Welt, die ihm so übel mitgespielt hatte, mit seinen Meisterwerken beschenkt hatte.
Er akkompagnierte die Sonate auf dem Bettlaken wie auf einer imaginären Klaviertastatur, und die Bewunderung für den beispiellosen Lebensmut des Komponisten ließ alle seine trüben Gedanken verfliegen. Er machte die Nachttischlampe an und spreizte die Hände. Sie waren übersät mit braunen Altersflecken und kennzeichneten viel eher sein eigentliches Ich als sein Gesicht, dessen er sich nur in einem Spiegel vergewissern konnte. Er hatte stets ihre Feingliedrigkeit bewundert, aber auch ihre Griffsicherheit und Kraft, bevor er das Klavierspielen aufgegeben und entdeckt hatte, überhaupt kein Instrument zu brauchen, um Musik zu
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