Augenblick der Ewigkeit - Roman
Mann, den er nicht kannte, kniete neben ihm und leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Pupillen. Maria hatte sich über ihn gebeugt und hielt seine Hand. » Er ist wieder bei Bewußtsein! Karl, wie geht es dir?«
Man hatte ihn auf die Bühne gelegt und ihm eine Jacke unter den Kopf geschoben. Der junge Arzt knipste seine Taschenlampe aus und fühlte den Puls.
» Mr. Herzog, Sir! Können Sie mich hören?«
Er nickte. Verwundert schaute er in die besorgten Gesichter, die auf ihn hinuntersahen. Er schloß die Augen und besann sich. Erst gestern, auf dem Flug über Manhattan, hatte er so intensiv wie schon lange nicht mehr an seinen Vater denken müssen, den er sein Leben lang vermißte, an dessen Tod er durch die Weigerung, für die Soldaten aufzuspielen, schuld gewesen war. Das hatte ihm keiner ausreden können, nicht einmal die Mutter. Tage nach der Beerdigung hatte er hohes Fieber bekommen und war in eine Art Koma gefallen. Er hörte Stimmen, die ihn lockten, und fühlte sich leicht wie eine Feder, die sich aufmachte davonzuschweben. Wie ein Unbeteiligter blickte er auf seinen kleinen Körper, der gekrümmt in einem Bettchen lag und den er im Begriff war zu verlassen. Er schwebte über einem Fluß. Ein Floß zerteilte unter ihm das Wasser, in dem sich der Abendhimmel spiegelte. Am Ufer standen Büsche und Bäume, die sich gegen die Glut des Sonnenuntergangs wie Schattenrisse ferner Dome und Paläste ausnahmen. Gelassen standen Rudergänger am Heck und steuerten das Floß den Fluß hinauf. Es wurde von weißen unscheinbaren Pferden auf Treidelwegen entlang der Uferböschung gezogen, auf denen braune Gestalten ritten. Auf dem Floß saßen Frauen und Kinder zu Füßen eines Mannes in einem roten Mantel, der dem Vater glich und ihm zuwinkte. Doch als er dessen Hand ergreifen wollte, um mitzufahren, schüttelte der Mann den Kopf. Die betörenden Stimmen verstummten, und er war aus seinem todesnahen Schlaf erwacht.
» Du bist ohnmächtig vom Podium gefallen. Plötzlich lagst du wie ein Maikäfer auf dem Rücken!«
» Ohnmächtig? Wie lange?«
Der junge Arzt nahm das Stethoskop vom Hals und klappte es zusammen. » Eine knappe Minute vielleicht, Sir. Ich kam gerade ins Foyer, als es passierte.«
» Ach, nur so kurz…« Seine Stimme klang, als wäre er enttäuscht. Er schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, daß eine derart kurze Zeitspanne so viele Erinnerungen enthalten konnte, die zudem so klar und unverstellt gewesen waren. Und er fragte sich, ob nicht seine lebenslange Jagd nach Anerkennung aus jenem kindlichen Sühneverlangen herrührte, das in den schrecklichen Ereignissen von damals seinen Ursprung hatte– ein Einfall, der ihn selber überraschte. » …ich wollte nicht den Ruhm für mich! Ich wollte ihn für meinen sanften Vater, der nie eine Chance bekommen hatte.«
» Was ist mit deinem Vater?« Maria hielt seinen Kopf und strich ihm die Haare aus der Stirn.
» Ach, nichts…« Er versuchte sich aufzurichten, doch ihre Hand hielt ihn zurück. » Bleib liegen, der Krankenwagen ist gleich da.«
Etwas unwirsch schob Herzog ihre Hand zur Seite und richtete sich auf. » Was denn für ein Krankenwagen?«
» Für alle Fälle, falls du dir was gebrochen hast.«
Er befühlte seine Arme und Beine, streckte sich, rollte mit dem Kopf, schwang sich über den Bühnenrand und stand auf. » Nichts, das gebrochen ist.«
Nur die Beine und der Rücken taten ihm weh. Die alten Verletzungen, die er sich bei diesem Unfall zugezogen hatte. Er biß die Zähne zusammen und klatschte in die Hände. » Was stehen Sie herum? Die Pause ist zu Ende. An die Arbeit, meine Herren! Ist ja nicht das erste Mal, daß ein Dirigent vom Podium gefallen ist. Aber es wird mir eine Lehre sein. Das nächste Mal laß ich mich anschnallen.«
Der Theaterarzt packte seine Instrumente zusammen und schüttelte den Kopf. » Es wäre besser für Sie, das Konzert abzusagen oder zumindest eine Pause einzulegen.«
Maria sammelte die Notenblätter auf, die er mitgerissen hatte, als er sich beim Sturz an seinem Pult hatte festhalten wollen. » Tu, was er dir sagt.«
» Ein Jahrhundertkonzert sagt man nicht ab.«
» Ihr Mann hält sich offensichtlich für unsterblich.«
Maria nickte. » Wie es aussieht!« Sie drückte Herzog die Noten in die Hand. » Schließlich plant er schon für das nächste Jahrtausend.«
Herzog richtete sich auf, legte die Blätter aufs Pult zurück und kletterte auf seinen Chromstahlhocker. » Ich habe nie Konzerte wegen
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