Augenblick der Ewigkeit - Roman
herum und blickten stumm auf sie hinunter. Karl flehte sie an, mit tränenerstickter Stimme. » So helft uns doch, der Vater stirbt…«
Er schlang die Arme um den Hals des Vaters und bedeckte dessen Gesicht mit Küssen. » Du darfst nicht sterben, nur weil ich nicht gespielt habe. Die Soldaten holen einen Arzt.«
Doch als er aufblickte, waren die Ulanen getürmt. Sie hatten sich auf ihre Pferde geschwungen und jagten im Regen davon.
Der Mond war aufgegangen und hing wie ein Lampion zwischen den Tannenzweigen. Das Unwetter hatte sich verzogen. Nur einige zeppelinförmige Wolkenbänke folgten ihm als Nachhut. Die nassen Zweige der Bäume und Büsche glitzerten im Mondlicht. Über den Fuhrweg, der von Brombeerhecken, Weißdorn und Hagebuttensträuchern gesäumt war, fielen schmale Lichtstreifen und dunkle Schatten. Die Räder gruben sich tief in den aufgeweichten Boden, so daß der Esel Mühe hatte, den Karrens durch den Morast zu ziehen.
Sie hatten die Instrumente vom Wagen geschafft, den Vater auf einen Strohsack gebettet und mit einem Woilach zugedeckt. Der Wirt eilte mit der Laterne voraus, gefolgt von Thomasch, der den Esel am Halfter führte und ihn bisweilen weiterzog, wenn er störrisch wurde. Karl kniete auf der Pritsche neben seinem Vater, hielt seinen Kopf und legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Der Vater stöhnte. Er schob Karls Hand zur Seite, um sich aufzurichten.
» Bleib ruhig, bleib liegen! Die Soldaten haben dem Doktor Bescheid gesagt. Bestimmt kommt er uns schon entgegen.«
Kraftlos fiel der Vater auf den Strohsack zurück. Er zog Karl zu sich herunter und flüsterte ihm ins Ohr. » Die Geige, wo ist meine Geige…«
» Hier, Papa!«
» Leg sie mir unter den Kopf, wenn ich gestorben bin.«
Karl versuchte, die Tränen zurückzuhalten. » Du darfst nicht sterben, Papa!«
Er machte sich los und schaute den Vater entsetzt an. Der Vater nahm seine Hand. » Du mußt jetzt für deine Mutter sorgen, versprichst du mir das?«
Karl wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht und nickte.
» Du mußt ihr gehorchen und dem Großvater auch…« Die Stimme des Vaters wurde schwächer. » Komm näher…«
Karl legte das Ohr an seinen Mund.
» …du darfst dein Talent nicht vertun, Karel, so leichtsinnig wie ich…«
Karl flüsterte zurück. » Ich versprech’s, Papa.«
Der Vater schloß die Augen. Nach einer Weile öffneten sich seine Lippen, und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als freute er sich über den listigen Einfall. Er nahm noch einmal die Hand seines Sohnes. » Hör zu, Karel. Mein Leben lang bin immer ich den anderen hinterhergelaufen. Jetzt sind sie an der Reihe! Versprich mir, die Gäule an meinem Leichenwagen sollen galoppieren!«
Karlsbad – 1914
Zwei Rappen mit ledernen Scheuklappen und schwarzen Federbüschen an den Stirnriemen standen unruhig scharrend mit dem Leichenwagen vor der Musikalienhandlung in der Kreuzstraße unweit des Kurhauses. Über Karlsbad, der alten Bäderstadt im Engtal der Tepl, ihren Kolonnaden und Hotels hatte sich eine Glocke wesenlosen Lichtes gestülpt. Die Sonne war von einem zarten Wolkengespinst verhängt, so daß man mit bloßen Augen in ihre blasse Scheibe blicken konnte. Schmeißfliegen umsurrten die Pferde, die mit den Hufen nach den Quälgeistern auf ihren empfindlichen Bäuchen traten. Schnaubend schüttelten sie die großen Köpfe, schlugen mit den Schwänzen, wedelten mit den Ohren und traten auf der Stelle, daß das Geschirr klirrte und der Kutscher auf dem Bock Mühe hatte, sie mit Schnalzen und gutturalen Lauten zu beruhigen.
Aus der Wohnstube im ersten Stock drang eine eintönige Litanei. Die Frauen trugen schwarze Kleider, die Männer Trauerflor an ihren Hüten. Im Nebenraum hinter einer offenen Schiebetür war der Vater aufgebahrt. Er lag frisch rasiert, gewaschen und gekämmt in einem offenen Sarg, den Kopf auf seinen Violinkasten gebettet, wie er es sich gewünscht hatte, und hielt den Künstlerhut in den gefalteten Händen. Karl war mit ihm allein im Raum und spielte auf dem Klavier den Marche funèbre in b-Moll von Chopin. Verstohlen blickte er zu dem Toten hinüber, der ihm verschmitzt zublinzelte. Er hob mal das eine, mal das andere Bein, als wollte er es sich in seinem engen Kasten recht gemütlich machen, bis Karl in lautes Lachen ausbrach und die Mutter entsetzt aus der Wohnstube kam, sich neben ihn auf die Klavierbank setzte und ihn in ihre Arme schloß. » Dein Vater ist tot und du
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