Augenblick der Ewigkeit - Roman
wartete, bis die Ampel auf » Walk« schaltete, überquerte den Broadway und betrat den Coffeeshop, von wo er die Straße bis hinunter zum Hudson in seinem Blickfeld hatte. Junge Mütter schoben ihre Kinderwagen an kleinen Gruppen orthodoxer Juden vorbei, die in schwarzen Mänteln und hohen Hüten im Windfang ihrer koscheren Läden auf Kundschaft warteten. Gegenüber, auf einem mit Maschendraht eingezäunten Platz, spielte ein Rudel farbiger Kids Basketball. Joachim schaute ihnen zu, während er seinen Kaffee trank. Der Coffee-Shop war fast leer zu dieser Tageszeit. Nur einige wenige Gäste hockten im hinteren Teil am Tresen vor einem Fernsehapparat, der den langgestreckten Raum wie ein zyklopisches Auge überwachte. Joachim schaute auf die Uhr.
Er erkannte sie sofort, als sie aus dem Backsteinhochhaus trat und in ihrem Patchworkbeutel kramte, um sich zu vergewissern, daß sie ihren Schlüssel nicht vergessen hatte. Eilig überquerte Franziska Wertheimer den gefliesten Vorplatz und kam die 110 th Street zum Broadway herauf. Sie war wohl Ende Siebzig, hatte aber den Gang eines jungen Mädchens, aufrecht und mit durchgedrücktem Kreuz, als balancierte sie eine zerbrechliche Last auf ihrem Kopf. Die letzten Meter rannte sie fast, denn die Ampel an der Kreuzung war auf » Walk« gesprungen.
Vor dem Coffeeshop blieb sie stehen. Ihr weißes Haar wurde an den Ohren von den Bügeln einer Sonnenbrille gehalten und war im Nacken zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, aus dem einige Strähnenbüschel hervorstachen. Der Pony, der die Stirn verhüllte, verlieh ihren dunklen Augen Intensität und Leuchtkraft. Sie schien ein wenig kurzsichtig zu sein, denn als sie flüchtig ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe des Coffeeshops kontrollierte, kniff sie die Augen leicht zusammen. Dabei schob sie die Sonnenbrille vom Haar auf die Nase zurück und stutzte, als sie Joachim am Tresen stehen sah, der sich rasch hinter einer aufgeschlagenen New York Times versteckte.
Als er nach einer Weile hinter seiner Zeitung hervorlugte, war sie nicht mehr da. Joachim warf ein paar Dollarnoten auf den Tresen und rannte ihr hinterher, die Treppe zur Subway hinunter. Die Linie 1 Richtung Downtown fuhr in die Station ein. Er sah sie in einen der vorderen Waggons einsteigen und konnte sich noch rechtzeitig ins hintere Abteil quetschen, bevor die Türen geschlossen wurden und die Bahn anfuhr.
Das italienische Restaurant, in dem sie meist zu Mittag aß, lag unter Straßenniveau an der Lower Plaza des Rockefeller Center. Joachim lehnte an der Balustrade über dem Konzertplatz, auf dem die fixen Jungs von Time Warner, Newsweek und NBC in der Mittagspause ihren Lunch verzehrten. Er sah Franziska hinter einer getönten Panoramascheibe sitzen, die die ganze Breite des Platzes einnahm. Jeden Mittag wurde sie von demselben Kellner bedient, einem dunkelhäutigen Mann mit weißen Haaren wie rohe Baumwolle, der den Stuhl zurechtrückte und ihr die Speisekarte reichte. Sie deutete auf die Karte und blickte fragend hoch. Er schüttelte diskret den Kopf, beugte sich zu ihr hinunter und zeigte auf ein anderes Gericht. Sie nickte daraufhin und klappte die Speisekarte zu. Kurze Zeit später kam er zurück und servierte ihr den Aperitif.
Während sie an dem giftgrünen Getränk nippte und auf ihr Essen wartete, blickte sie auf die Lower Plaza hinaus, auf die goldene Prometheus-Figur, die von der Panoramascheibe blau gefiltert wurde, als stünde der ganze Platz unter Wasser. Da fiel ein Schatten über ihren Tisch.
» Entschuldigen Sie, Madame.«
Franziska schaute überrascht auf. Joachim stand vor ihr. » Ich sah Sie zufällig hier allein sitzen, da dachte ich…« Er nahm seinen Hut ab.
» Wieso zufällig, sind Sie mir nicht schon die ganze Zeit über gefolgt?«
Joachim drehte verlegen den Hut in seinen Händen.
» Wollen Sie nicht ablegen und sich zu mir setzen. Ben…« Sie winkte dem Kellner, der ihm mit einer würdevollen Verbeugung den Hut abnahm. » …dasselbe für den Herrn! Sie sind selbstverständlich mein Gast. Nein, keine Widerrede. Bitte, nehmen Sie Platz, die Pasta ist ausgezeichnet, besonders, wenn sie von Ben empfohlen wird! Aber ich vermute, das wissen Sie selbst am besten.« Sie deutete zur gegenüberliegenden Seite des Restaurants. » Haben Sie nicht erst vor ein paar Tagen dort drüben gesessen? Wenn Sie sich unbeobachtet glaubten, haben Sie zu mir herübergestarrt.«
Joachim setzte sich auf den angebotenen Stuhl. » Entschuldigen Sie, Mrs.
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