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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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aus den Condannati vorzulesen. Tonlos und mit leiser Stimme las sie die todtraurigen Texte. »› Liebe Mama! Heute um sieben Uhr werden wir unschuldig füsiliert. Meine Leiche befindet sich diesseits der Schule beim Straßenwärterhaus an der Brücke. Ihr könnt sofort mich holen kommen. Ich habe so heiß gebetet, aber es ist unmöglich gewesen, diese Herzen zu erweichen. Mama, bete für mich, sagt meinen Brüdern, ich sei unschuldig. Wir haben noch zehn Minuten. Küsse für alle für immer. Ich bin der erste. Während ich schreibe, ist mein Herz ausgetrocknet, Mama und Papa, liebe, kommt sogleich mich holen…‹«
    Nicht daß er die Briefe wie ein Libretto vertonen wollte. Es ging ihm allein darum, für die Todesangst der Condannati, für ihre Menschlichkeit und Solidarität eine musikalische Sprache zu finden und zugleich seiner eigenen Trauer über ihren Opfergang Ausdruck zu verleihen.
    Wenn sie ihm aus den Briefen vorlas, saß er vor seinem Arbeitstisch in einer Art Selbsthypnose, eine Angewohnheit, wie er ihr erklärte, die er schon aus seiner Kindheit kannte, wenn er sich einsam fühlte. Es war eine Art Geistesabwesenheit, die er sein » Fieberlein« nannte, ein Wort, mit dem er schon als Kind jene heimliche Besessenheit umschrieb, die ihm den Vorwurf einbrachte, ein Träumer zu sein. In der Kindheit hatte sein Vater ihn deswegen oft in seiner verletzenden Art als » Wolkenschieber« und » Traumtänzer« verspottet, während seine Mutter, die ähnliche selbsthypnotische Zustände kannte, ihn ernster nahm und behandelte, als wäre er ein kindlicher Schamane. Wie aus dem Unbewußten bezog er seine Musik daraus, ohne von vornherein zu wissen, welche Gestalt sie haben würde, denn erst im Nachhinein zwang er sie in Formen, überarbeitete und revidierte sie nach den Regeln, die er sich selber auferlegt hatte. Dabei schätzte er die Klarheit, das Helle, die Reinheit und verabscheute alles Dunkle, Dumpfe, Deutsche.
    » Anfangs habe ich noch so liebe Stückchen komponiert. Doch erst, als ich mich dem Einfluß meines Vaters entzogen hatte und auf mich allein gestellt war, war ich plötzlich jenen existentiellen Gefühlen der Angst ausgesetzt, die ich musikalisch ausdrücken und bannen konnte.«
    » Dein Vater muß ein ziemlicher Ignorant sein, wenn er die Qualität deiner Musik nicht erkennen will.«
    » Mein Vater hat meine Arbeit immer nur mißtrauisch und mit Neid verfolgt. Alles, was ich gemacht habe, hat er mit seiner vernichtenden Kritik entwertet. Anfangs habe ich noch versucht, ihm zu erklären, was ich mit meiner Musik ausdrücken will, daß nach Hiroschima und Auschwitz Musik kein Leuchten mehr über die Menschen ausgießen kann wie er mit Beethovens Neunter. Oder wie Adorno sagte: Nimmt man das Komponieren todernst, könne es nicht ausbleiben, die Möglichkeit des Verstummens ins Auge zu fassen. Rien ne va plus.Aber soweit will ich es nicht kommen lassen. Meine Musik soll nichts anderes sein als ein Akt der Verzweiflung und Verweigerung.«
    » Und wie hat er darauf reagiert?«
    » Wie alle jene strafenden Zurechtbieger, Hetzer, Stiefelprinzipale und professionellen Opportunisten der Adenauer-Republik, wenn sie sich an die Wand gedrängt fühlen und nicht mehr weiterwissen– ich sei ein Narr und ein hoffnungsloser Moralist. Du wirst ihn ja bald kennenlernen.«
    Sie hatte ihm verschwiegen, daß sie seinen Vater bereits begegnet war, und sie hatte keine Angst davor, Herzog könne sie vielleicht wiedererkennen. Denn das machte ja gerade den Reiz ihres Unternehmens aus, und sie freute sich schon darauf, sein dummes Gesicht zu sehen, wenn Joachim sie ihm vorstellte.
    Der Juli war so heiß, daß Maria nur mit nackten Füßen und in ihrem Badeanzug mit einem von Joachims Hemden darüber, die Zipfel auf dem Bauch verknotet, herumlief. Der Lack auf ihren Zehennägeln war von den vielen Wanderungen am Strand abgesplittert, und die Mittelmeerbräune hatte winzige Fältchen in ihre Augenwinkel gezeichnet. Bald lernte sie den Rest der Familie kennen, die allmählich aus allen möglichen Richtungen zu den gemeinsamen Sommerferien eintrudelte.
    Als erste kam Johanna mit einem FDJ-Tuch um den Hals und schwärmte von den X. Weltjugendfestspielen in Ostberlin, wo sie mit Eislers Duo für Violine und Violoncello op. 7 und Dessaus Zwei kleine Studien für Violine und Violoncello aufgetreten war. » Das hat mir der Staatsratsvorsitzende persönlich überreicht!« Dabei ballte sie die Hand zur Faust » …es lebe die

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