Augenblick der Ewigkeit - Roman
Vaters, daß er glaubte, den Verstand zu verlieren. Er flehte zu Gott, sie möchten verstummen, und ein rettender Engel möge seine Hand nehmen und ihn hinaus ins Freie führen.
Er hatte Heimweh nach seiner Mutter und der Musik, die ihm im Institut verboten war. Jede Minute seines Tagesablaufs war ausgefüllt von Unterricht und Körperertüchtigung. Das Lernen, Exerzieren und Turnen, das Auf- und Abgehen in den Pausen, das karge Essen in der Institutskantine, alles geschah gemeinschaftlich. Auf Kommando mußten sie sich setzen, aufstehen, aus- und einrücken, und selbst das Persönlichste, das Gebet, erfolgte auf Befehl. Sie lernten » Angetreten«, » Stillgestanden«, » die Augen rechts«, »die Augen links«, und bei den Proben im Spielmannszug wurden ihnen die Flötentöne mit Stockhieben beigebracht.
Der Instrukteur des Musikkorps, Sokolowski, hatte sie aus reiner Schikane im Karree des Kasernenhofs in Formation zur Generalprobe antreten lassen, obwohl er wußte, daß die abendliche Feierstunde zu Ehren des ungarischen Freiheitshelden Horty wegen der Kälte nicht im Freien, sondern in der Aula stattfinden würde. Am Morgen hatte es angefangen zu schneien. Ein grauer Wolkenschleier lag seit Tagen über den Weinbergen und dem Neusiedler See. Schneeflocken taumelten durch die Luft, leicht wie Asche. Die Kälte war so trocken, daß die blau gefärbten Lippen der Trompeter, Tuba- und Fanfarenbläser bisweilen an den eisigen Messingmundstücken ihrer Instrumente kleben blieben. Die dünnen, weißen Handschuhe, die sie als Teil ihrer Uniformen tragen mußten, konnten der Kälte nicht standhalten. Karls Hände fühlten sich an wie abgestorben. Sokolowski war ein Schleifer, dem an der Schläfe eine Metallplatte eingesetzt worden war, als ihm beim Attackesignal am schwer umkämpften » Blutberg« Col di Lana ein italienisches Schrapnell die rechte Stirnhälfte zerschmettert hatte. » Aaaaachtung! Reeechts um!! Im Gleichschritt marsch…«
Als Sextaner war Karl eigentlich zu jung für einen Spielmannszug. Gleichwohl hatte ihn der Instrukteur gezwungen, das Glockenspiel, ein tragbares Metallophon mit bunten Quasten, dem Spielmannszug voranzutragen. Zum Parademarsch schritt der Tambourmajor im Stechschritt nebenher. Er war ein eitler Geck. Kleingewachsen, trug er eine Bärenfellmütze auf seinem halslosen Kopf, die ihn größer machen sollte, dazu silberne Epauletten und weiße Stulpenhandschuhe aus Ziegenleder. Wenn er glaubte, einen falschen Ton herauszuhören, teilte er mit dem Stock wahllos Hiebe auf die Rücken der Kadetten aus. » Ich werd’s euch schon noch einprügeln, ihr Säcke! Und eins und zwei…«
Im ganzen Regimentsbezirk konnte keiner wie er den Tambourstock so schwungvoll in die Luft schleudern, daß er, ohne aufzusehen, weitermarschieren und die Formation im Auge behalten konnte, indes der Stock hoch über ihm seine Kapriolen schlug. Er wußte stets, wann und wo er herunterkam, um ihn sicher aufzufangen.
Am Nachmittag schneite es stärker. Wie Mückenschwärme taumelten die Flocken im Fackellicht, wurden aufgestöbert von kleinen Böen und zurückgetrieben in den lila getönten Himmel.
» Stillgestanden! Eines Tages werde ich noch brauchbare Musikanten aus euch machen, ihr Taferlklaßler! Fackelträger vorgetreten! Und zwei, und drei…«
Die Kapelle intonierte den Fackeltanz Nr. 1 von Meyerbeer, ein rasselndes Stück Janitscharenmusik mit Trommel, Pauke und Trompeten. Sokolowski wirbelte dazu den Stock so schnell in seiner Hand, daß der silberne Knauf im Schein der Fackeln blitzte und der Eindruck eines glitzernden Rads entstand, das er elegant von einer Hand in die andere überführte, bevor er den Stock in die Luft schleuderte.
» Jeder einzelne von euch hat sich dem Korpsgeist unterzuordnen und im Verbund des Orchesters aufzugehen. Schreibt euch das hinter eure Ohrwascherln, Fetzenschädel!«
Aus Erschöpfung ließ Karl für einen Augenblick die Arme sinken, um seinen klammen Finger etwas Wärme einzuhauchen. Da stand Sokolowski schon hinter ihm. Als hätte er nur darauf gewartet, hieb er ihm mit dem Tambourstock auf den Rücken.
» Hier wird nicht schlappgemacht, Kadett! Los, weiterspielen!«
Karl zuckte zusammen.
» Das ist ein Befehl, Kadett!«
Bevor Karl ihn befolgen konnte, sauste der Stock abermals mit aller Wucht auf seine Schulter. Ein stechender Schmerz fuhr ihm durch die Brust und in die Arme. Er biß die Zähne aufeinander, rang nach Luft und versuchte, trotzdem
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